Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
Vom Netzwerk:
Reisetasche.“
    „Darf ich mich zu dir setzen? Dann können wir ein bisschen plaudern.“
    „Können wir tun.“ Ich nahm ihr Stück Kuchen und den Pott Kaffee, stellte beides mit auf mein Tablett und brachte es zu dem Tisch, an dem die braune Reisetasche stand. Plaudern wollte ich. Eigentlich überflüssig, ich wusste doch schon alles. Ich könnte ihr als Hellseher alle Details ihrer Familienverhältnisse erzählen oder ihre geheimsten Wünsche offenbaren. Aber das würde sie bestimmt verwirren, wer weiß, ob wir dann überhaupt zusammenkämen. Ich tat also so, als ob ich nicht wüsste, wie sie heißt, wo sie herkommt, was sie studiert, in welchem Wohnheim sie untergebracht ist, usw., usf. Das Gespräch verlief im Wesentlichen wie vor dreißig Jahren. Allerdings achtete ich weniger auf den Inhalt, der war mir ja bekannt, vielmehr gab ich mich meinen Gefühlen hin, betrachtete ihr schmales, zartes Gesicht und ihre aufregenden Augen. Ich konnte mich einfach nicht sattsehen und wäre am liebsten aufgestanden und hätte sie geküsst. Aber selbst für einen Berliner wäre dies der Forschheit wohl zu viel gewesen.
    Aber ihre Hand zu berühren, ließ ich mir nicht nehmen, eine unglaubliche Wärme strömte aus diesen kleinen, zierlichen Fingern. „Ich weiß, ich bin etwas sehr direkt. Aber du kannst mir glauben, ich bin eigentlich verdammt schüchtern. Bei dir habe ich aber das Gefühl, als ob ich dich schon ewig kennen würde. Vielleicht sind wir uns in einem früheren Leben schon mal begegnet. Du bist mir so vertraut.“ Ich dachte, sie würde lachen, aber diesmal lachte sie nicht, sondern meinte ernst: „Eigenartig. Mir geht es genauso. Ich habe dich bestimmt noch nicht gesehen, höchstens mal zufällig in der Uni. Wenngleich ich nicht an die Wiedergeburt glaube, gibt es vielleicht eine Art Seelenverwandtschaft.“
    „Genau. Wir sind Seelenverwandte. Und ich bin überzeugt, wir haben ein ähnliches Schicksal. Hat dich vielleicht vor Kurzem dein Freund verlassen?“ Sie schaute misstrauisch. „Hast du Erkundigungen über mich eingezogen?“
    „Nein, ich kenne niemanden aus deiner Seminargruppe. Es ist nur so ein Gefühl, weil mir das gleiche passiert ist. Deshalb sagte ich vorhin, ich habe meinen Kummer ersäufen müssen.“
    „Deine Freundin hat dich verlassen?“
    „Ja, einen Tag vor Weihnachten. Damit ich besonders viel Freude am Fest haben soll.“
    „Sei nicht sarkastisch. Vielleicht wollte sie nicht das gesamte Fest über heucheln.“
    „Egal. Wenn sie gestern nicht Schluss gemacht hätte, wäre ich heute schon in Berlin und nicht hier in der Mensa. Ich hätte nicht mit dir frühstücken können.“ Sie lächelte. „Und, wie sieht nun dein Weihnachtsfest als Single aus?“
    „Ich feiere in der Wohnung meiner Eltern. Mit allen möglichen Verwandten. Mein Zimmer ist frei. Ich kann wieder einziehen. Meine Mutter hat in dem Jahr kaum etwas verändert. Die paar Sachen, die ich bei meiner Ex habe, werde ich mir im neuen Jahr irgendwann mal bei ihr abholen. Was ist mit dir? Seit wann bist du Solo?“
    „Seit Beginn des Studiums. Mein Freund wollte keine Studentin.“ Ich kannte natürlich den Grund, wusste was Monique oder ihr ehemaliger Freund damit meinte (er war Bauhilfsarbeiter und litt unter Minderwertigkeitskomplexen), aber ich musste mich natürlich danach erkundigen. Dies war eine Folge meines erfüllten Wunsches, alles noch einmal erleben zu dürfen, mit dem akkumulierten Wissen der verflossenen Jahre. Diese Konsequenz hatte ich mir vorher gar nicht überlegt hatte. Viele Gespräche, die man noch halbwegs im Kopf hatte, verloren natürlich ihre damalige Spannung. Neugierde und Interesse musste ich oft heucheln. Um nicht immer alles 1:1 zu wiederholen, stellte ich mitunter andere Fragen als vor dreißig Jahren, versuchte neue Gesichtspunkte und Aspekte zu entdecken. In diesem Fall aber ließ ich das Gespräch genauso laufen wie damals. Allerdings fragte ich mich, ob ich nicht eine entscheidende Änderung herbeiführen sollte. Wenn ich später über dieses Treffen mit meiner Frau sprach, ärgerten wir uns beide, dass wir uns verabschiedet und alleine zu unseren Familien reisten und abgesehen von den Stunden der Bescherung, recht einsame und traurige Tage verlebten, voller Sehnsucht nach einer Vertiefung der am 24. Dezember bei einem Mensa-Frühstück entstandenen neuen Bekanntschaft. Aber ich konnte ihr schlecht erklären, dass es nichts Besonderes sei, wenn man nach einer halben Stunde Unterhaltung

Weitere Kostenlose Bücher