Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Amüsieren kommen würde. Das gleiche galt für fast alle Diskotheken der Stadt.
Die Türsteher, einer der begehrtesten, weil lukrativsten Jobs der DDR, entschieden letztlich darüber, wer das Etablissement betreten durfte und wer nicht. Und wenn man nicht über persönliche Kanäle verfügte, musste man bereit sein, mindestens einen Zwanzigmarkschein zu investieren, um Gnade in den Augen des Einlassers zu finden. Ich war an diesem Abend bereit, dieses Opfer zu bringen, um Monique meine Rolle als Mann von Welt zu demonstrieren. Das lange Stehen in der bitteren Kälte, die fast erfrorenen Füße und der Zwanzig-Mark-Schein sollten aber nicht reichen, um in die Bar zu gelangen. Zu viele ausländische Besucher aus dem Westteil der Stadt begehrten an diesem Abend Einlass. Und sie hatten ein nicht zu schlagendes Argument: DM-Scheine mit dem Aufdruck der Zahl 20 zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Die Türsteher waren sich des Unterschiedes zwischen heimischer Währung und harten Devisen wohl bewusst. Ihre Entscheidung war eindeutig und für mich und noch andere Bürger aus dem Ostteil Berlins deprimierend.
Statt Bar und Tanz und internationale Atmosphäre gab es dann einen Rotweinpunsch in häuslicher Umgebung. Ich nahm die Abweisung persönlich und ärgerte mich noch Wochen danach über die Einstufung in die „zweite Klasse“. Die Erinnerung an die Schmach saß tief und ich würde diesmal keine Abfuhr bekommen, das hatte ich geschworen. Wir besuchten vor der Fahrt zur Bar meine Großmutter, die sich freute, Monique kennenzulernen und mir in der Küche heimlich zu verstehen gab, dass ich diesmal eine gute Wahl getroffen hätte. Sie war schon immer eine große Menschenkennerin. Als ich mich in der Küche umblickte, entdeckte ich über dem alten Kochherd, der noch per Holz und Kohlen in Gang gebracht werden musste, drei ausgesägte Holzplatten, auf denen in roter Schrift Sprüche und kleine Miniaturbilder wie Kochmütze, Löffel und Wolke aufgemalt waren. Ich hatte diese Kleinigkeiten vergessen, aber als Kind habe ich oft über diese Zeilen nachgedacht. Als ich sie jetzt las, fragte ich mich, warum ich überhaupt Philosophie studiert hatte, hier war die Volks- und Spruchweisheit komprimiert, die jeder theoretischen Weltanschauung überlegen ist, auf einem halben Quadratmeter fand man Orientierung und Moral zusammengefasst. „Eine gute Küche ist das Fundament allen Glücks.“ Der zweite lautete: „Kommt zu Dir ein Gast, gib so gut Du`s hast.“ Am meisten hatte mich der Dritte beschäftigt: „Wie ein gut verbrachter Tag einen glücklichen Schlaf beschert, so beschert ein gut verbrachtes Leben einen glücklichen Tod“.
Meine Großmutter hatte diese Weisheiten zu Lebensmaximen erhoben, sie zauberte selbst und in schweren Zeiten aus wenigen Zutaten die leckersten Gerichte, verwöhnte nicht nur die Familie, sondern jeder, der zu Besuch kam, wurde als ein königlicher Gast behandelt. Sie hatte nur Arbeit gekannt und ihre Freude war es, wenn sie anderen eine Freude bereiten konnte. Sie führte ein völlig selbstloses, ein im wahrsten Sinne des Wortes rechtschaffenes Leben, das sie als ein gutes empfand und als sie ein Jahr nach unserem Besuch verstarb, hatte sie einen glücklichen Tod. Mit fast neunzig Jahren und einem aktiven Lebensabend ohne Krankheiten und größeren Einschränkungen schlief sie friedlich in ihrem Fernsehsessel, die Stricknadeln auf ihrem Schoß, für immer ein. Dennoch wunderte ich mich, dass ich nicht nach meiner Rückkehr vor zwei Wochen in das Jahr 1978 sofort an ihr Ableben gedacht hatte. Mir wurde bewusst, dass ich ungefähr 28 Jahre zur Verarbeitung dieses Verlustes gehabt hatte und meine schnelle Vorausschau auch von den Empfindungen und dem gesamten Gefühlsleben von 2008 geprägt war. Vielleicht war meine Zukunftsschau zu optimistisch gewesen und es warteten doch noch einige andere Verluste und Herausforderungen auf mich. Ich würde die Jahre noch einmal in Ruhe in Gedanken durchgehen müssen. Dafür blieb aber morgen noch Zeit, jetzt freute ich mich erst einmal, meine geliebte Großmutter zumindest für ein Jahr wieder gewonnen zu haben. Ich erzählte ihr von dem geplanten Barbesuch und der Unmöglichkeit, ohne Devisen Einlass zu bekommen. Sie lächelte verständnisvoll und nestelte, ohne dass ich lange bitten und betteln musste, aus ihrem Portemonnaie einen Zwanzig-DM-Schein. Sie drückte ihn mir mit einem Augenzwinkern in die Hand. Durch ihre regelmäßigen Besuche bei
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