Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
bei meinen Gedanken.
Die nächsten Wochen und Monate verliefen ruhig, der Winter war irgendwann überstanden und die Frühlingssonne erschien heller und angenehmer als je zuvor. Ich zitierte mehr als einmal Goethes „Osterspaziergang“. Was ich bei meinem Wunsch, in die Vergangenheit mit dem Wissen der Gegenwart zurückzukehren, nicht bedacht hatte, war der Umstand, dass dieses Wissen ein sehr subjektives und vor allem selektives war. Ich hatte die ersten Wochen sogar Mühe, mich an die Straßen und Plätze, die Gebäude, in denen die Seminare oder Vorlesungen stattfanden und die Verkehrsverbindungen zu erinnern. Mehr als einmal musste ich den Stadtplan studieren oder nachfragen. Im Jahre 2008 war ich in den Sommermonaten das letzte Mal in Leipzig gewesen und diese Bilder hafteten noch sehr deutlich in meinem Gedächtnis. Ich war nicht besonders angetan von den unzähligen Baustellen, den vielen neuen, modernen Gebäuden, die das alte Stadtbild verändert, aber nicht unbedingt verschönert hatten. Das Breuninger Kaufhaus wirkte wie ein Affront gegen das Renaissancebauwerk und die hübsche Fassade des Alten Rathauses. Geschäfte der verschiedenen Mobilfunkanbieter reihten sich wie Perlen einer Kette aneinander, eine Kette, die man auch in einer x-beliebigen modernen europäischen Großstadt gefunden hätte. Nur wenige Geschäfte und Restaurants hatten die Veränderungen der Wendezeit überstanden und sich den alten Charme bewahrt. Ich schwelgte in Erinnerungen und Nostalgie.
Als ich nun den Zustand der Innenstadt, des Marktes, der Passagen und vor allem dann den der Außenbezirke sah, begriff ich, wie schnell das Gehirn die Bilder der Vergangenheit umformte und idealisierte. Ich musste den Bauherren der 90er Jahre bei aller berechtigten Kritik doch Abbitte leisten. Vieles, was ich jetzt aus dem Blick der Zukunft betrachtete und mit nüchternem Verstand, war alles andere als schön. Im Zentrum waren einige der historischen Gebäude restauriert und man hielt schon wegen der Touristen und der internationalen Messe-Besucher die Bausubstanz auf ein erträgliches Niveau. Anderes wirkte aber jetzt auf mich sehr provinziell und angestaubt. Und als ich im März 1979 ins Thälmannviertel fuhr, um einen Kommilitonen zu besuchen, der sich dort ein Zimmer gemietet hatte, konnte ich es kaum glauben: Ich kam mir vor wie in der Nachkriegszeit. Es gab noch einige Ruinen und die meisten Fassaden der erhalten gebliebenen Häuser waren stark beschädigt. Viele Dächer waren undicht und die Hälfte der Wohnungswände wies breite Risse auf. Im Zimmer meines Kommilitonen, der dort mit seiner Freundin und dem gemeinsamen Baby lebte, war über dem Kinderbett ein Laken gespannt. Mein Studienfreund sah meinen fragenden Blick. „Er deutete zur Decke. Es fallen immer wieder Putzstücke von der Decke, einmal war das Bett voller Kalkstaub. Wir haben den Baldachin zur Sicherheit von Anna angebracht.“
„Habt Ihr euch nicht bei der Wohnungsbaugesellschaft beschwert?“
„Natürlich. Die zuständige Frau in der Verwaltung hat nur bedauern die Schultern gezuckt. Sie hätte dieses Jahr keine Finanzen und Handwerkerkapazitäten mehr zur Verfügung. Wohl gemerkt nach nicht einmal drei Monaten des Jahres. Und Anfang 1980 würden erst die undichten Dächer repariert werden. Aber falls dann noch Geld zur Verfügung stünde, würde man sich um die Innenräume kümmern. Einige der über dreitausendfünfhundert Mieter, die hier leben, sind schon ausgezogen, aber es ist wirklich schwer, irgendwo in Leipzig eine bessere Wohnung zu erhalten. Wir werden wohl versuchen, ein Zimmer im Studentenwohnheim zu bekommen.“ Ich nickte ihm zu, wusste aber, dass das Wohnheim in diesem Jahr schon ausgebucht war und er erst im September mit seiner Familie ein Zimmer erhalten würde. Aber ich wollte ihm die Hoffnung nicht rauben. Und ich wusste, das er und seine Familie dieses halbe Jahr ohne von einem herausfallenden Stein- oder Putzbrocken getroffen worden zu sein, heil überstehen würden. Bei der Rückfahrt betrachtete ich die grauen Fassaden und die kaum noch sichtbaren Stuckverzierungen an den Giebeln. Die sanierten Häuser, die frisch verputzten Fassaden, die vielen frisch gestrichenen Stuckverzierungen der Bürgerhäuser des Jahres 2008, die ich vor meinem geistigen Auge sah, bildeten einen Kontrast, wie er nicht hätte größer sein können, zu dieser von mir bis vor Kurzem idealisierten nun sehr trist anmutenden Wirklichkeit.
Ich beschloss, stärker und
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