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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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mit wenigen Worten und auf einfache und einprägsame Weise erläutern und darstellen. Er war auch das, was man einen kritischen Geist zu nennen pflegt, ich wunderte mich mehr als einmal, dass ihm die Lehrbefähigung noch nicht entzogen worden war. Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen schien er nicht nur Bücher und abstrakte Zahlen zu kennen, sondern auch den Zustand der realen sozialistischen Volkswirtschaft. „Wir essen unser Nationaleinkommen auf.“ „Es sieht nicht gut aus mit der erweiterten Reproduktion.“ „Wir brauchen grundlegende Modernisierungen an der industriellen Basis, sonst werden wir im Wettkampf der Systeme unterliegen.“ „Der Aufbau eines eigenständigen mikroelektronischen Industriezweiges übersteigt die Möglichkeiten eines so kleinen Landes und absorbiert Investitionen, die wir an anderen Stellen dringend benötigen würden.“
    Diese Aussagen mochten stimmen, wurden aber nicht gern gehört, widersprachen sie doch den offiziellen Jubel-Verlautbarungen und dem von der SED eingeschlagenen Wirtschaftskurs, der darauf ausgerichtet war, die Bevölkerung bei Laune zu halten und der dem Konsum einen entscheidenden Rang einräumte. Dr. Stützer sprach sogar ein Tabu an: den Schuldenstand der DDR im westlichen Ausland. Dazu gab es keine offiziellen Zahlen. Er hatte wohl Verbindungen zu führenden Mitarbeitern der Staatlichen Plankommission. Später erfuhr ich, dass selbst diese keine genaue Kenntnis über die Höhe der Schulden besaßen. Ein heikles Thema, das ihm fast seine Dozentur gekostet hätte. Er musste seine Vorlesungen um dieses Thema kürzen und wurde auch in anderer Hinsicht, allerdings hinter verschlossenen Türen, gemaßregelt. Immerhin behielt er seinen Posten, in den 60er Jahren hätte man ihn zur Strafe und Belehrung in die Produktion geschickt. Es tat mir fast leid, dass ich bei dieser Prüfung den Dummen spielen musste, denn meine Darlegungen über die sozialistische Warenproduktion endeten in einer äußerst anregenden Diskussion, die wenig mit einer Prüfung zu tun hatte.
    Aber die Argumente kannte ich ja schon, ich hätte, so tröstete ich mich, kaum neue Gesichtspunkte erfahren. Jetzt ging es um mehr, nämlich um das Austesten der von der Sanduhr gesetzten Möglichkeiten. Ich gab kaum eine vernünftige Antwort und zuckte bei den Nachfragen meist nur mit den Schultern. Nur als die Frage nach den Grenzen einer zentralen Planwirtschaft gestellt wurde, gab ich für einige Augenblicke meine Verweigerung auf und erteilte eine halbwegs plausible Antwort. Bestenfalls dürfte nun eine Abschlussnote „Drei“ in mein Studienbuch eingetragen werden. Dr. Stützer lächelte nur, schlug mein Studienbuch auf und trug, mir verschlug es fast die Sprache, eine „Eins“ ein. „Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass Ihre heutige Leistung enttäuschend war, aber man merkt Ihnen die Prüfungsangst an und mir ging es während meiner Ausbildung auch des Öfteren so, dass gerade in einer wichtigen Prüfung mein Kopf wie leer war. Sie haben aber das gesamte Jahr über kontinuierlich hervorragende Leistungen gezeigt und das Niveau der Diskussionen, wie mir Ihre Seminarleiterin erzählte“, dabei schaute er zur noch jungen und attraktiven Frau, die neben ihm saß, „in entscheidender Weise beeinflusst und geprägt. Es wäre also unfair, eines Aussetzers wegen, Ihnen die Arbeit eines Jahres zu verderben. Nehmen Sie die Eins als Anerkennung für die Gesamtleistung und als Ansporn, sich weiter mit den heute aufgeworfenen Problemen zu beschäftigen.“ Normalerweise wäre ich überglücklich und dankbar gewesen, aber in Hinblick auf den „Sanduhrtest“ überkam mich eine Art Resignation. Die beiden Prüfer deuteten meine Miene wohl als Enttäuschung über meine heutige Leistung. Man verabschiedete mich freundlich und mit einem aufmunternden Spruch. Ich versuchte, mir die Konsequenzen vor Augen zu führen. Sollte es tatsächlich unmöglich sein, eine Änderung am Verlauf meines persönlichen Lebens herbeizuführen? Was hätte der Wunsch, etwas bei der Wiederholung anders oder besser machen zu wollen, dann für einen Sinn? Als ich in der Mensa saß und bei einer Tasse Kaffee in Ruhe über alles nachdenken wollte, erklang aus den Lautsprechern zum zwanzigtausendsten Mal in diesem Jahr der Titel „Sing, mein Sachse, sing“ des Kabarettisten Jürgen Hart. Dieser leitete das Kabarett die „academixer“ und hatte mit seiner Truppe einen überregionalen Erfolg. Es war kaum möglich,

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