Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
mich bekommen. Ich zitierte: „Die Zeit ist kein empirischer Begriff. Das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge. Nur unter deren Voraussetzung kann man sich vorstellen: dass einiges zu einer und derselben Zeit, zugleich, oder in verschiedenen Zeiten, nacheinander, sei. Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.“
Kant hat erkannt, erläuterte ich, dass wir so etwas wie Zeit gar nicht wahrnehmen könnten, wenn wir nicht die Zeit-Vorstellung von Geburt in uns tragen würden, diese Vorstellung von vornherein zu unserem Erkenntnisvermögen untrennbar dazugehören würde. Die Wahrnehmung der Erscheinungen wird uns erst durch diese Vorstellung möglich. Die Zeit ist also - laut Kant - eine reine Form der Anschauung, die dem Subjekt, nicht aber den Dingen an sich zu kommt. Dasselbe gilt für die Raumvorstellung.“ Der Professor, ein Mann Mitte fünfzig, nur noch ein halbes Dutzend grauer Strähnen auf der Glatze und eine dicke Brille auf der fleischigen Nase, wies mich zurecht: „Was meinen Sie mit: Kant hat erkannt? Es handelt sich doch offensichtlich um einen Trugschluss, eine bloße subjektive Annahme, bestenfalls um eine Hypothese und nicht etwa um eine Erkenntnis. Jetzt stellen Sie dieser falschen subjektiv-idealistischen Ansicht, die materialistische, speziell die leninistische Konzeption von Raum und Zeit gegenüber!“
„Laut Lenin seien Raum und Zeit objektiv real, unabhängig vom Menschen. Das Subjekt widerspiegele mit seinen Begriffen von Raum und Zeit nur Existenzformen der Materie. Mir scheint aber“, wagte ich nach einer kurzen Pause einzuwenden, „das Kant bei allem scheinbaren Subjektivismus, so Unrecht nicht haben könne, denn das Erfassen von Zugleich und Nacheinander, sei doch nicht als eine bloße Widerspiegelung etwas außerhalb des Menschen sich Vollziehenden möglich, da doch bestenfalls eine Art Zeitfluss empfunden werden könne. Der Begriff der Zeit hätte sich doch wohl kaum als eine bloße Abstraktion von etwas objektiv Realem bilden können.“ Damit hatte ich meine „Eins“ verspielt. Mir wurde ein gutes Detailwissen bescheinigt und dass ich viel auswendig gelernt hätte. Ich wäre aber noch zu sehr in bürgerlichen Fragestellungen und Argumenten verhaftet und hätte die dialektische Materieauffassung offensichtlich noch nicht vollkommen verstanden.“
Womit der Professor nicht ganz unrecht hatte. Diese Auffassung habe ich bis zum Jahre 2008 nicht begreifen können, geschweige denn 1979 auch nur ansatzweise verstanden. Vielleicht war sie auch nicht zu verstehen. Mit dem Ergebnis hätte ich leben können, mich ärgerte auch gar nicht die Einschätzung der Prüfer, der Professor tat mir sogar leid. Er war keineswegs bösartig und seine Vorlesungen zu den altgriechischen Philosophen waren sogar anregend. Die Wende konnte er nicht verkraften, er erlitt nach der letzten Volkskammerwahl im März 1990 einen Schlaganfall, der ihn an den Rollstuhl fesseln sollte und ihm seines wichtigsten Werkzeugs beraubte: der Sprache. Nein, ich war nicht nachtragend und er urteilte eben so, wie er es nicht besser gelernt hatte. Mich ärgerte vielmehr die Tatsache, dass ich wiederum dieselbe Zensur erworben hatte. Es musste doch möglich sein, von der ersten Vergangenheit abzuweichen. Bei der nächsten Prüfung würde ich dies auf alle Fälle erreichen. Wenn ich mich nicht verbessern konnte, würde ich den umgekehrten Weg beschreiten. Ich war im Fach „Politische Ökonomie“, in anderen Regionen und Zeiten „Volkswirtschaftslehre“ genannt, der beste Student des Jahrgangs, alle Seminarreferate und schriftlichen Arbeiten sowie die Mitarbeit waren mit „sehr gut“ bewertet worden. Auch die mündliche Prüfung, die etwa die Hälfte der Gesamtbewertung ausmachte, hatte ich mit einer glatten „Eins“ geschafft. Diesmal würde ich mich zurückhalten und mir bewusst eine „Fünf“ einhandeln und damit die Gesamtnote auf „Drei“ senken.
Das wäre eine deutliche Veränderung der persönlichen Vergangenheit. Ich sollte scheitern.
Der Hauptprüfer, Dr. Stützer, ein noch recht junger Dozent
mit einer flotten blonden Locke, die ihm ins linke Auge hing und einer Brille, die er sicher nicht bei einem DDR-Optiker erstanden hatte, trug die Schuld an meiner Begeisterung für dieses an sich nicht gerade spannende Fach. Er konnte die kompliziertesten Zusammenhänge
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