Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
kritischer meine Erinnerungen an die Vergangenheit mit dem jetzt Erlebten zu vergleichen. Die Verabredungen und Treffen mit Monique waren ungeachtet des Wiederholungseffektes mehr als bloße, schnell vergehende Glücksmomente. Einige dieser Beisammensein habe ich sogar noch mehr genossen als beim ersten Mal. Mitunter kommt es eben nicht nur auf die Neuheit, sondern vielmehr auf die Vertiefung an. Meinen Plan, wenig Zeit in die Vorbereitung der Seminare und Vorträge zu investieren, musste ich bald aufgeben.
Ich war im späten Mittelalter gelandet. Nur dreißig Jahre trennten mich noch vor einigen Wochen von meiner jetzigen Gegenwart, aber ich hatte vergessen, wie rasant die Technik in diesen Jahrzehnten vorangeschritten war. Es gab kein Internet, nicht die Möglichkeit, nach einem gesuchten Begriff oder Ereignis schnell mal zu googeln. Ich hatte keinen DVD-Recorder, keine Videokamera und kein Handy, ein Verlust, der allerdings durch die gewonnene Ruhe und Zeit mehr als wettgemacht wurde. Selbst einen normalen Festnetzanschluss sollte ich erst einige Jahre nach der Wende erhalten. Meine Eltern hatten acht Jahre auf einen Telefonanschluss gewartet, die Zuteilung Mitte der 70er Jahre kam einem Lottogewinn gleich. Computer war ein Wort aus einer fernen Welt, der Laptop war noch nicht einmal erfunden, bedurfte daher auch keines Namens. Papier und Kugelschreiber waren meine wichtigsten Arbeitsinstrumente. Ich musste regelrecht lernen, mich wieder auf die alten Bedingungen einzustellen. Am meisten vermisste ich den freien Zugang zur Literatur. Zum einen gab es im Bibliotheksbestand der Universität nur wenige Exemplare zu den jeweiligen Titeln. Die Bücher, die als Seminarliteratur ausgewiesen waren, wurden von dreißig bis vierzig Studenten zur gleichen Zeit benötigt. Man verborgte die Bücher meist untereinander, musste dann aber mehr überfliegen, denn lesen oder gründlich studieren, mitunter bekam man ein Buch erst am Abend vor dem Seminar und musste auf einen Teil des Nachtschlafes verzichten, wollte man halbwegs vorbereitet ins Seminar gehen. Viele Titel, die als „bürgerlich“ oder „klassenfeindlich“ eingestuft waren, konnte man nur im Lesesaal lesen, sie durften nicht ausgeliehen werden. Für viele Werke, selbst einige über hundert Jahre alte, musste man sich einen „Giftschein“ besorgen, eine Lese-Genehmigung der Studienabteilung, die wiederum nur erteilt wurde, wenn man eine Unterschrift und Befürwortung durch den Seminarleiter vorzeigen konnte. Ich dachte in den ersten Monaten: Das kann doch alles nicht wahr sein, wo bis du denn hingeraten? Selbst Bücher, die ich damals gründlich gelesen hatte, musste ich vor den Seminaren zumindest noch mal überfliegen, da zumeist nach konkreten Zitaten und Seitenanzahlen, nach unzähligen Details gefragt wurde und viele Kontrollarbeiten geschrieben wurden. Ich kam mehr als einmal in Versuchung, das Handtuch zu werfen und für immer nach Berlin zurückzufahren.
Damit wäre eine Wochenendbeziehung verbunden gewesen, da Monique niemals ihr Studium abgebrochen hätte. Ich suchte nach einem Kompromiss, reduzierte die Vorbereitungen und nahm in Kauf, im Notendurchschnitt etwas schlechter abzuschneiden als in der „Originalzeit“. Am Ende stellte ich aber überrascht fest, dass die jetzigen Noten identisch waren mit denen, die vor dreißig Jahren im Studienbuch eingetragen wurden. Bei den Zwischenprüfungen wollte ich dies aber ändern. Ich freute mich auf die Diskussionen mit den Prüfern.
In „Geschichte der Philosophie“ hatte ich nur eine „Zwei“ bekommen, diesmal würde es ein Leichtes sein, eine „Eins“ zu erringen, kannte ich doch mehr Literatur zum Thema als die Prüfenden zusammen. Zu viel Wissen kann aber auch eine große Last sein. Und die falschen ideologischen Wertungen abzugeben, war noch belastender, zumindest, wenn man eine sehr gute Note haben wollte. Das wurde mir bereits nach wenigen Minuten Diskussion klar. Ich hatte die Aufgabe, den subjektiven Idealismus Kants anhand seiner Kategorie der „Zeit“ darzustellen. Ich erläuterte zunächst die Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Werkes „Kritik der reinen Vernunft“, dann kam ich zur „Transzendentalen Elementarlehre“, in der Kant seine Auffassung der Begriffe „Raum“ und „Zeit“ erläutert. Ich hatte die Passagen inzwischen fast auswendig im Kopf. Vor allem natürlich die Zeitproblematik hatte aus leicht nachvollziehbaren Gründen, einen völlig neuen Stellenwert für
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