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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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Dann wird man den Leuten die Währung Freiheit versprechen, aber es wird viel zu spät sein.“ Ich bewunderte den scharfen Verstand dieses Mannes. Vor allem, weil seine Worte für mich keine Prognose, sondern erlebte Vergangenheit darstellten. „Haben Sie keine Angst oder Bedenken, so offen über den vermeintlichen Untergang der DDR zu sprechen?“
    „Wovor sollte ich Angst haben? Wo die Angst beginnt, endet die Freiheit. Ich hatte als junger Mann Angst. In Stalingrad habe ich sie für immer verloren, ich habe schon im Herbst 1942 laut gesagt, dass diese Arschlöcher Hitler und Göring uns verrecken lassen würden. Die anderen Offiziere haben nur geschwiegen und selbst die Generäle haben bloß gemeint, ich solle nicht gar so laut meine Meinung herausposaunen. Glauben Sie mir, die Soldaten die vor Stalingrad ihr Leben lassen mussten oder dann in Gefangenschaft verhungerten oder an Krankheiten starben, waren das Beste und Tapferste, was Deutschland an Menschen je hervorgebracht hat. Hätte Stauffenberg die desillusionierten Soldaten der 6. Armee zur Verfügung gehabt, hätte er dem Hitlerspuk sicher ein Ende bereiten können. Stattdessen ist nicht nur die 6. Armee, sondern Deutschland untergegangen!“ Er blickte einen Augenblick sinnend vor sich hin. „Um auf Ihre Frage zurückzukommen. Ich habe keine Angst, die Wahrheit auszusprechen. Was sollte mir passieren? Meinen Sie, man verurteilt mich wegen Verunglimpfung des sozialistischen Staates? Das Schlimmste, was geschehen könnte, wäre Hausarrest wie bei Havemann. Aber wer findet sich dann, um diese sogenannten asozialen und unsozialistischen Elemente ruhig zu stellen oder sich totsaufen zu lassen? Nein, ich bin privilegiert. Ich genieße das Privileg des Alters und der Erfahrung, dazu wie es neudeutsch heißt - der Beziehungen. Und zum Zweiten das Privileg des Standes und des Gebrauchtwerdens.“
    Ich konnte ihm nicht widersprechen, wusste ich doch, dass er seine Praxis noch jahrelang unbehelligt weiterführen würde, bis sein Herz 1983, während seiner Sprechstundenzeit, plötzlich aufhörte zu schlagen. Ein schneller Tod, nur schade, dass er die Bestätigung seiner Prognosen und die Wiederauferstehung Deutschlands nicht mehr miterleben konnte. Es war ein eigenartiges Gefühl, wenn man einem Menschen genau mitteilen konnte, wie und wann er diese Welt verlassen würde. Ich verzichtete aber darauf, dieses Wissen kundzutun. Er spürte meine Nachdenklichkeit. „Haben Sie noch einen Wunsch oder eine Frage, junger Mann?“
    „Nein, ich bin Ihnen sehr dankbar. Und wenn ich Ihnen aus meiner Intuition und meinem Kenntnisstand heraus etwas sagen darf: Sie haben sicher recht mit Ihrer Prognose. Ich denke, dass dieser Staat keine zwölf Jahre mehr existieren wird.“ Er schaute mich eindringlich an, wollte wahrscheinlich nachhaken, besann sich aber anders und meinte stattdessen: „Sie scheinen einen sechsten Sinn zu besitzen. Nutzen Sie ihn gut. So etwas ist ein Geschenk der Schöpfung. Alles Gute für Sie.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte er schon auf die Taste und rief in die Wechselsprechanlage: „Herr Schreiber, bitte.“ Ich erhob mich von meinem Stuhl und gab ihm zum Abschied die Hand, was ich mir bei meinem ersten Besuch nicht gewagt hatte, da er von sich aus nie jemanden die Hand gab, vielleicht um sich nicht anzustecken, vielleicht auch wegen der mangelnden Hygiene einiger seiner Patienten. Er schaute zwar etwas überrascht, reichte mir aber dann seine Hand zu einem festen Händedruck und nickte mir aufmunternd zu. Dieser letzte Blick und der Händedruck haben sich fest in mein Gehirn eingegraben. Mit dem eingereichten Krankenschein war die Angelegenheit weitgehend für mich erledigt, eine Exmatrikulation abgewendet. Allerdings musste ich noch eine mündliche Stellungnahme vor der FDJ-Gruppe unserer Seminargruppe ablegen, was ich diesmal aber in einer inhaltlich und sprachlich anderen Form tat als mein Ich vor dreißig Jahren. Der ironische Unterton war wohl kaum zu überhören. Am liebsten hätte ich dem FDJ-Sekretär gesagt, dass er in den 90er Jahren für die CDU im Landtag sitzen würde und ein zu großes Engagement für die DDR, die Studienleitung und die FDJ an dieser Stelle und bei ähnlichen Gelegenheiten, seinem Leumund schaden und spätere Kritiker auf den Plan rufen könnte. Er hätte mir meine Prognosen wohl kaum geglaubt und mich als imperialistischen Agenten beschimpft, der die Moral der Kommilitonen untergraben wolle. Ich beließ es

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