Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
abzuschätzen. Mitunter konnte es passieren, dass der gute Doktor in zehn Minuten zehn Patienten abfertigte, dann verging wiederum eine halbe Stunde, bevor ein Patient aus dem Sprechzimmer zurückkehrte. Wenn ein Patient so alkoholumnebelt die Praxis betrat, dass er kaum noch stehen, geschweige denn seine Krankheitssymptome oder sein Anliegen schildern konnte, zögerte Dr. Kunstmann keine Sekunde und warf den Hilfesuchenden eigenhändig aus der Praxis, was dazu führte, dass selbst schwere Alkoholiker ihren Konsum vor dem Praxisbesuch drastisch einschränkten. Ich hatte mir ein Buch mitgenommen, um die lange Zeit des Wartens zu vertreiben, aber im Unterschied zu meinem Besuch vor dreißig Jahren, schenkte ich diesmal den Wartenden mehr Aufmerksamkeit. Ich konnte gar nicht glauben, was für eine illustre Schar von DDR-Bürgern hier versammelt war, aller Altersgruppen, sozialer Schichten und keineswegs vernahm man nur Berliner Dialekt bei den heftigen Diskussionen, die mitunter sogar in Streit und wüsten Schimpfereien übergingen, bis die Schwester an der Rezeption so laut dazwischen ging, dass für einige Minuten etwas Ruhe einkehrte.
Hier hatte die staatliche Fernsehnachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ sicher noch nie einen Bericht vom Alltagsleben der DDR-Bürger gedreht. Nach viereinhalb Stunden wurde endlich mein Name aufgerufen.
Der Doktor saß an einem großen Eichenholzschreibtisch und füllte ein Formular aus, er schaute bei meinem Eintreten kurz hoch. „Bitte nehmen Sie Platz. Sie waren vier Jahre nicht mehr in meiner Praxis, mit Ihrer Gesundheit scheint es bestens zu stehen. Sie sehen auch heute nicht krank aus.“ Ich wusste, eines konnte dieser Arzt nicht ausstehen und dies waren Simulanten. Man fuhr am besten, wenn man klipp und klar sein Anliegen vorbrachte. „Ich bin auch nicht krank.“ Er ging nicht auf meine wahrheitsgetreue Bemerkung ein. „Wie ich in Ihrem Sozialversicherungsausweis lese, sind Sie seit September an der Leipziger Universität immatrikuliert.“ Ich nickte. Natürlich kannte ich die nächste Frage. „Sie haben also auf meinen Rat gehört und doch nicht Geschichte studiert?“ Beim erstmaligen Führen des Gespräches hatte ich zwar gestutzt, aber keine Nachfrage gestellt. Diesmal wollte ich meine Neugierde stillen. „Sie können sich an ein vier Jahre lang zurückliegendes Gespräch erinnern?“ fragte ich mit ehrlicher Verwunderung.
„Nun, ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und wie Ihnen sicher nicht entgangen sein dürfte, gibt es pro Tag nicht viele Patienten, mit denen ich mich eine halbe Stunde lang unterhalte. Außerdem, bei diesen Worten lächelte er, mache ich mir natürlich einige Notizen in die jeweilige Krankenakte.“
„Ich kann mich auch gut an unser letztes Gespräch erinnern“, gab ich zu. Er hatte mir Details aus seiner Zeit im Stalingrader Kessel erzählt und aus tiefsten Herzen auf Generalfeldmarschall Paulus geschimpft. Nicht, weil dieser sich in Gefangenschaft begab, sondern, weil er dies viele Wochen früher hätte tun müssen. Und weil er jahrelang in Gefangenschaft ein angenehmes Leben führte, sein Gemüse anbaute und seine Memoiren schrieb, währenddessen Tausende einfacher Soldaten an Krankheiten und Hunger krepierten. „Nicht ein einziger General ist im Stalingrader Kessel oder in Gefangenschaft gefallen oder getötet worden. Einen habe ich behandelt, der diese Zeit nicht überstanden hat, aber keineswegs aufgrund der unzureichenden Ernährung, sondern geschuldet der Unheilbarkeit seiner Krebserkrankung. Wissen Sie, die Geschichte ist ein heikles Ding. Sie glauben, was geschehen ist, ist geschehen, ist gewissermaßen eine steinerne Tatsache. Aber dies ist ein Irrtum. Die reale Geschichte wird schnell vergessen, spätestens mit dem Tod des letzten Augenzeugen endgültig. Die Umschreibung der Geschichte ist ein fortlaufender Prozess und er wird immer von den Siegern bestimmt. Von allen Disziplinen ist die Historiografie die ideologischste und damit verlogenste. Lassen Sie lieber die Finger von diesem Studium. Es bringt Ihnen nur Kopfschmerzen und moralische Gewissensbisse ein.“ Es waren andere Gründe, die letztlich den Ausschlag gaben, mich umzuorientieren. Aber die Argumente von Dr. Kunstmann hatte ich noch gut im Ohr. „Ja, Sie hatten recht mit Ihren Warnungen. Ich habe mein Vorhaben aufgegeben, Geschichte zu studieren.“
„Und, wie gefällt Ihnen die Philosophie? Haben Sie schon
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