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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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etwas gelernt, dass Ihnen im realen Leben weiterhilft? „Ich hoffe es zumindest.“ Er schaute neugierig in meine Augen. „Verraten Sie mir, was Ihrer Meinung nach das wichtigste philosophische Problem ist?“ Ich kannte meine Antwort vom ersten Gespräch. Ich hatte irgendetwas von der dialektischen Höherentwicklung der Gesellschaft erzählt. Diesmal fiel meine Antwort anders aus, das konnte Dr. Kunstmann aber nicht wissen. „Das Problem der Zeit. Darin erschöpfen sich in irgendeiner Weise alle anderen Fragen und Probleme. Vom Sinn des Lebens bis zum Tod.“ Er nickte, diese Antwort schien ihm zu gefallen.
    „Sie scheinen wirklich genau das für Sie richtige Studium gewählt zu haben.“
    „Das denke ich auch. Aber wenn Sie mir nicht helfen, ist dieses Studium für mich in Kürze beendet.“ Ich erzählte ihm von der angedrohten Exmatrikulation und der einzigen Chance, die mir ein rückdatierter Krankenschein einräumen würde. „Sind Sie sicher, dass Sie das Studium zu Ende bringen wollen? Wollen Sie sich wirklich diesem Druck aussetzen und den Gängelungen irgendwelcher Bonzen und Idioten? Schauen Sie sich im Wartezimmer um, die meisten meiner Patienten haben mit diesem Staat nichts am Hut, sie sind arm, einige verkommen, andere einfach faul. Aber sie besitzen mehr Freiheit, als Sie auf Ihrem eingeschlagenen Weg je erringen können. Fast alle wissen, was es bedeutet, glücklich zu sein.“ So hatte ich, zugegebenermaßen, die Sache noch nie betrachtet. Ich könnte mir einen Hausmeisterposten bei einer der staatlichen Wohnungsbaugesellschaften besorgen, eine entfernte Verwandte war in der Leitung tätig. Ich würde mehr Geld verdienen, als dies mit meinem Studienabschluss je möglich sein würde, hätte wenig Arbeit, aber viel Zeit zum Bücherlesen und Verfassen von Aufsätzen und Erzählungen. Als schreibender Arbeiter wäre meine Chance, einen Verlag zu finden, der meine Schriften veröffentlicht, auch enorm hoch. Und mit Vorgesetzten hätte ich kaum zu tun und schon gar nicht mit Denunzianten und abgetakelten Offizieren. Ich zögerte. Ich erinnerte mich der vielen Auszeichnungen, der Belobigungen, des Titels „Beststudent“, der Forschungsmöglichkeiten nach meinem Studium. Der Zeit mit meiner Frau in unserem gemeinsamen Studentenzimmer.
    Vielleicht war es doch nicht das Wissen oder Mehr-Wissen, dass neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung einräumte. Ein alter griechischer Philosoph meinte einmal: „Nur der Charakter des Menschen ist sein Schicksal.“ War das persönliche Schicksal unumstößlich mit diesem Charakter festgelegt? Ich war mir unsicher, aber eines wusste ich genau, dass ich weitermachen wollte. „Ich möchte gerne dieses Studium fortsetzen“, sagte ich kurz und bündig. „Es ist Ihre Entscheidung. Ich stelle Ihnen den Krankenschein aus. Schwere Angina hat sie für zwei Wochen ins Bett gezwungen.“
    Er kritzelte einige Zahlen auf den Schein, unterschrieb ihn und gab mir den Durchschlag. „Aber einen Rat möchte ich Ihnen doch noch geben. Suchen Sie sich nach Ihrem Studium einen Posten in der Forschung, weitab von der Politik. Dieser Staat ist nicht lebensfähig, er wird über kurz oder lang seinen Geist aufgeben. Oder wie es Hegel formulieren würde, ein wenig habe ich mich auch mit Philosophie beschäftigt, der Weltgeist wird über dieses Land hinwegfegen.“ Ich merkte und dies gefiel mir gut, dass das Gespräch anders verlief als beim ersten Mal. Es war für mich neu und der moderne Psychologe hatte wohl recht - es wurde ein Lustgefühl in mir ausgelöst. Ich hatte niemanden getroffen, der so frühzeitig, zwölf Jahre vor der Wende, den Untergang prognostiziert hatte.
    „Wie kommen Sie darauf, dass dieser Staat verschwinden könnte? Immerhin ist er doch Teil eines politischen-militärischen Bündnisses und existiert nicht im luftleeren Raum.“
    „Nichts kann auf Dauer existieren, was auf einer doppelten Moral aufgebaut ist. Mit der Verunglimpfung eines aufrechten Pfarrers, der sich für seine Ideale und seinen Glauben öffentlich verbrannte und mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann hat die Regierung ihr Todesurteil unterschrieben. Sie weiß es nur noch nicht. Außerdem sind die Wirtschaftszahlen getürkt, ich bin kein Wirtschaftsexperte, aber ich habe gute Informationen aus verschiedenen Quellen und wenn mein gesunder Menschenverstand nicht trügt, sind in zehn bis fünfzehn Jahren die Schulden soweit angewachsen, dass ein wirtschaftliches Fiasko unvermeidlich sein wird.

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