Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
begannen wir den Baum zu schmücken, dann setzte ich die Pfirsich-Bowle an.
Wir aßen zum Mittag einen Teller Brühsuppe und erlaubten uns eine Stunde Mittagsschlaf, bevor wir uns dem Anlass und Besuch angemessene Kleidung anzogen. Pünktlich um 15.00 Uhr trafen die ersten Verwandten ein. Gegen 15.30 Uhr war unsere Runde komplett. Ich begrüßte alle, sprach über die Bedeutung des Weihnachtsfestes, las die Weihnachtsgeschichte vor, resümierte das verflossene Jahr und kam auch darauf zu sprechen, dass wir dieses Fest in kleinerer Runde feiern müssten, da uns die liebte Tante Martha im August für immer verlassen habe. Wir stießen auf ihr Wohl an. Nach meiner Ansprache stürzten sich alle auf den von meiner Frau gebackenen und herrlich verführerisch duftenden Obst- und Schokoladenkuchen. Kaum war der Kaffeetisch abgeräumt, begann ich einige Weihnachtstitel auf dem Klavier zu spielen. Meine Mutter, die einzige der Anwesenden mit einer erträglichen Stimme, ließ es sich nicht nehmen, mitzusingen.
Dann holten alle ihre Taschen und Tüten, die sie in der Diele vorübergehend deponiert hatten und die gegenseitige Bescherung nahm ihren üblichen Lauf. Wie im letzten Jahr von mir eingefordert, steuerten diesmal auch meine Tochter und ihr Freund und meine halbwüchsigen Neffen einen kleinen kulturellen Beitrag zur weihnachtlichen Stimmung bei. Meine Tochter spielte ein Lied auf der Mundharmonika, mein Schwiegersohn in spe zeigte uns einen sehr beeindruckenden Kartentrick und meine Neffen versuchten sich an auswendig gelernten Weihnachtsgedichten. Kaum war das Lob für die meines Empfindens recht gelungenen Vorträge verklungen, kam die Frage: „Können wir nach der Bescherung wieder wie bei deinem letzten Geburtstag Geschicklichkeits- und Kraftspiele spielen?“ Meine Schwester protestierte: „Das muss doch nicht am Heiligen Abend sein“. Ich wollte meinen Neffen, die wie alle angehenden Männer wirkliche Freude nur an Spiel und Wettbewerb hatten, als Dank für ihre einstudierten Gedichte eine Freude bereiten - und mir selbst natürlich auch. Ein wenig Spaß und Konkurrenz konnten nicht schaden. Außerdem wollte ich Ihnen beweisen, dass ich trotz meines vorangeschrittenen Alters Gewichte immer noch öfter stemmen oder länger halten konnte, als sie mit ihren durchtrainierten jugendlichen Körpern und Muskeln. Sie konnten nicht ahnen, dass ich trotz meiner sonstigen Sportabstinenz jeden Morgen zwanzig Minuten wie ein Verrückter das Gewicht in die Luft hievte und dies seit dreißig Jahren, ohne auch nur einen einzigen Tag ausgelassen zu haben. Im Urlaub nahm ich Hilfsmittel wie Hocker oder Stühle zum Trainieren. Ich habe nie begriffen, warum ich dies tat. Es bereitete mir keine besondere Freude, manchen Morgen wäre ich lieber etwas länger im Bett geblieben und außer diesen seltenen familiären Wettbewerben gab es keine Gelegenheit, meine Armkraft unter Beweis oder zur Schau zu stellen. Erst viel später wurde mir bewusst, dass es doch einen tieferen, mir damals aber nicht bekannten Grund für diese Schufterei geben sollte. Eines Tages würde mein Leben davon abhängen. Doch damit greife ich vor. Zurück zum beschriebenen Dummenjungenwettbewerb. Um bei den Wettbewerben objektiv zu sein, der erste bestand im Halten meiner 7,5-kg-Kugel mit ausgestrecktem Arm, hatten wir im vergangenen Jahr die Eieruhr aus der Küche benutzt. In diesem Jahr war dies leider nicht möglich, da das schöne Stück meiner Frau beim Kuchenbacken aus der Hand gerutscht und in mehrere Einzelteile zerfallen war. Teile, die inzwischen mit den weihnachtlichen Abfallsack füllten. Wir hätten nun einfach unsere Armbanduhren als Zeitmesser verwenden können, aber um allen einen einheitlichen und fairen, aus allen Richtungen beobachtbaren Schiedsrichter zu bieten, kam mir der Einfall, meine Sanduhr aus dem Arbeitszimmer zu holen. Obwohl ich sie nun achtzehn Jahre auf meinem Schreibtisch zu stehen hatte, kannte außer meiner Frau und meiner Tochter keiner dieses interessante Mitbringsel aus Paris. Ich hielt die Sanduhr für alle sichtbar hoch. Es entspannte sich ein Gespräch um die Zeit und die Vergänglichkeit des Lebens. Meine Neffen, die wenig philosophisch und geschichtlich interessiert waren, verdrehten schon die Augen, als mein Onkel sich an eine Sanduhr seiner Kindheit erinnerte und dies zum Anlass nahm, die folgenden vom Krieg geprägten Jahre im Detail zu rekonstruieren. Meine Frau ahnte, dass es weder Musik, noch Geschenke, Spiele oder
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