Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
vollziehen.
Als am 28. November 1989 Helmut Kohl seinen Zehn-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten „Von konföderativen Strukturen zu einer Föderation“ im Rahmen einer Bundestagsrede dem Parlament und der Öffentlichkeit vorstellte, verglich ich diese Ausführungen mit meinen Notizen vom Juli. Es gab zum Teil wörtliche Übereinstimmungen. Offensichtlich verlief die Vereinigung doch anders, als sich dies die meisten Bürger auf ihren Montagsdemonstrationen vorstellten oder die Jüngeren beim Sehen von Dokumentationen zu diesen Ereignissen vermittelt bekamen. Ich erinnerte mich an die Worte Will Smiths, der vielleicht in einer Beziehung recht hatte, nämlich als er behauptete: Macht ist immer anonym! Ihre Quellen und Kanäle werden 99,9 Prozent der Menschheit wohl immer verschlossen bleiben. Oder um es in leichter Abwandlung mit dem Dogen aus dem Münchhausen Film zu sagen: Die Massen sind nur ein Stein in unserem Spiel!
Einige Wochen nach dem seltsamen Vortrag, der nicht wiederholt und offiziell nicht weiter diskutiert wurde, lud mich mein Freund Tommy zu einem Treffen von Bürgerrechtlern ein, denen er sich angeschlossen hatte. In der großen Altbauwohnung eines Leipziger Malers kamen fast dreißig Frauen und Männer zusammen, die den Bereichen Kunst, Wissenschaft und gescheiterte Existenz zuzurechnen waren. Außer Tommy und mir gab es nur noch einen Mitarbeiter der Universität, der an diesem Treffen teilnahm. Es fehlte an Sitzplätzen, der Gastgeber half mit Matratzen aus, die er auf den Boden legte. Es gab einige kleinere Vorträge, ich kam mir vor wie auf einer Versammlung der 68er, deren Teilnehmer über Basisdemokratie und sexuelle Freizügigkeit debattierten. Viele Themen und Bereiche wurden zur gleichen Zeit angesprochen, alle einte aber der Glaube, einen neuen, reformierten Sozialismus mit demokratischen Zügen schaffen und die DDR zu einem Perestroika-Staat umbilden zu können. Keiner hatte auch nur den leisesten Wunsch, mit der BRD eine Konföderation zu bilden oder sich gar zu einem gemeinsamen Staat zu vereinigen. Vielleicht mit Ausnahme eines Berliner Rechtsanwaltes, der dies zu diesem Zeitpunkt aber nicht laut äußerte und nur in einem persönlichen Gespräch mit mir, am Rande der lauten und heftigen Diskussionen das Wort „Konföderation“ als eine Option der Entwicklung fallen ließ. Dieser Rechtsanwalt wurde Anfang 1990 als Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit enttarnt. Ich hatte beim zweiten Mal überlegt, ob ich überhaupt an diesem oppositionellen Treffen teilnehmen sollte. Tommy zuliebe entschloss ich mich dann doch zur wiederholten Teilnahme. Auf dem Weg zum Treffen informierte ich meinen Freund darüber, dass sich einer der Anwesenden im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit in die Oppositionsgruppe eingeschleust hatte. Als ich ihm den Namen nannte, zuckte er nur mit den Schultern. „Es wird nicht der einzige Spitzel sein. Verrate mir doch lieber, ob ich in den nächsten Monaten verhaftet werde?“
„Nein. Wirst du nicht.“
„Na also, dann kann ich doch sagen, was ich will. Schön, wenn man den Propheten an seiner Seite hat, zumindest wenn es sich um positive Voraussagen handelt.“
„Ich bin kein Prophet, ich bin ein Gast aus der Zukunft“, musste ich ihn zum wiederholten Male korrigieren. Bei dem Treffen war ich nur passiver Zuhörer gewesen, diesmal versuchte ich, mir Gehör zu verschaffen und die Diskussion in eine andere Bahn zu lenken. „Vielleicht geht ihr von falschen Voraussetzungen aus, möglicherweise ist die DDR schon pleite und als Staat gar nicht mehr zu retten. Vielleicht solltet ihr die gesamteuropäische Entwicklung in eure Überlegungen einbeziehen und eine Konzeption entwerfen, wie man einen besseren, einen gesamtdeutschen Staat schaffen könne.“ Der ausbrechende Lärm war so intensiv, dass die Staatssicherheit wohl keine Abhörgeräte benötigt hätte, wahrscheinlich konnte jeder der Hausbewohner bis Parterre (die Wohnung befand sich im vierten Stock) mithören, wenngleich bei dem lauten Stimmengewirr sicher nur Wortfetzen zu verstehen waren. Ich wurde zum Revanchisten abgestempelt und bekam in leicht brüllendem Tonfall von einem Friedhofsarbeiter, der vorher zwei Jahre Kunst studiert hatte, bevor man ihn exmatrikulierte, die Frage an den Kopf geworfen, was ich mit meinen reaktionären Ansichten hier überhaupt zu suchen hätte? Womit er, ohne es zu ahnen, eine gute und sehr treffende Frage stellte. Was
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