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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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offen benannt und kein Weg aus der sich täglich verschärfenden Krise gesucht. Im Gegenteil, die Stimmen der Professoren wurden immer leiser, die Kritik verhaltener. Sogar als schon die Straßen Leipzigs mit Polizeieinheiten abgeriegelt und ein Eingreifen gegen die Demonstranten am 9. Oktober in unmittelbare Nähe gerückt war, wurde nur theoretisch diskutiert und Konzepte entworfen, die etwa den Forderungen der Bürgerbewegungen um Epochen hinterher hinkten. Mit einer einzigen Ausnahme und die bringt mich heute noch ins Grübeln. Ein Professor, der aus der BRD in die DDR kam und hier seine politische und berufliche Heimat gefunden hatte, schien seiner Zeit voraus zu sein. Er hatte bis dahin mehr oder weniger wichtige Analysen marxistischer Teiltheorien und grundlegender marxistischer Begriffe abgegeben. Sein biografischer Hintergrund und seine Kontakte, die bis in höchste, wenngleich in der Öffentlichkeit nicht bekannte Kreise reichten, verschafften ihm offenbar einen Wissensvorsprung, in Synthese mit seinem Instinkt für notwendige oder unvermeidliche Entwicklungen bewogen ihn zur Vorlage eines Konzeptes, dass er im ausgewählten Kreis von etwas zwanzig Mitarbeitern der Sektion vorstelle. Mich erinnerte diese Zusammenkunft an mein Erlebnis mit dem Oberst, diesmal befand ich mich aber intellektuell und moralisch nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Und dieses Gefühl hatte ich sogar, als ich den Vortrag und die anschließende interne Diskussion das zweite Mal verfolgte. Allein schon der Zeitpunkt des Vorstellens der Konzeption erregte mein Erstaunen, nicht etwa Herbst 1989, nach Ausreisewelle und wachsenden Erschütterungen, sondern Juli 1989, in jedem Sommermonat, in dem es vielleicht schon etwas brodelte, die gefälschte Wahl vom Mai hatte die ersten ernsthaften Proteste der sich formierenden Bürgerrechtler zur Folge, aber immer noch ein Zeitpunkt, an dem Topf und Deckel stabil genug schienen, um eine soziale Explosion zu verhindern. Wir erwarteten alle eine der bekannten Darstellungen zur dialektischen Einheit von Basis und Überbau, was auch den Vortrag einleitete, dann aber auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Gegenwart und dann auf die Situation der beiden deutschen Staaten angewandt wurde. Fast ohne Übergang kam der Professor zum eigentlichen Kapitel: „Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten“. Als ich diese Überschrift das erste Mal hörte, verschlug es mir buchstäblich die Sprache. Beim zweiten Mal war ich nicht mehr überrascht, stattdessen hochkonzentriert und auf jedes Detail der Darlegung achtend und mir Notizen machend. Keiner der Anwesenden, mit Ausnahme des Bereichsleiters, der zum Freundeskreis des Professors zählte und den Inhalt schon kannte, konnte glauben, dass das vorgestellte Programm ernst gemeint sei. An eine staatliche Vereinigung dachte zu diesem Zeitpunkt kein Mensch, weder die BRD-Regierung, noch Franzosen oder Engländer oder Amerikaner, höchstens vielleicht Gorbatschow und seine Vertrauten oder - die Bilderberger. Es schien für die Normalpolitiker jenseits aller weltpolitischen und europäischen Realitäten zu liegen, ernsthaft über ein geeintes Deutschland nachzudenken. Offensichtlich gab es aber sehr wohl Kräfte (ich glaubte und glaube nicht, dass dieses Konzept dem Kopf eines einzelnen Sozialwissenschaftlers entsprungen ist), die diese Option strategisch in Betracht zogen.
    Es folgte nach Beendigung des Vortrages nur eine spärliche Diskussion, die meisten Anwesenden konnten diesen Vortrag nicht einordnen. Sie fragten sich, ob dies ein verspäteter Aprilscherz sei oder ein Test, um die sozialistische Einstellung und Staatstreue der wissenschaftlichen Mitarbeiter zu prüfen. Nur in kleinem Kreis mit Tommy und einem weiteren Assistenten diskutierten wir am nächsten Tag diesen Vortrag. Diesmal wollte ich mehr erfahren. Ich stellte einige Nachfragen, wie denn die kapitalistische und sozialistische Warenproduktion zusammengeführt werden und wie das politische System eines vereinigten Deutschlands aussehen solle? Und in welchem Zeitraum sei der Vollzug dieser Vereinigung geplant? Die wirtschaftlichen Aspekte, dies verrieten die Antworten, waren wohl bei dieser Konzeption nur wenig durchdacht, mit Ausnahme einer geplanten Währungsreform. Der politische Weg hingegen war schon recht genau abgesteckt, die Vereinigung solle sich über eine Vertragsgemeinschaft, die immer enger geknüpft werde, innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren

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