Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
Vom Netzwerk:
hatte ich in dieser Zeit überhaupt zu suchen? Meine Ratschläge wollte doch sowieso niemand hören. Ich beschloss, mich endgültig aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. Sollte die Welt untergehen, ich hatte sie nicht geschaffen und ich hatte nicht die Macht, sie zu verändern, geschweige denn sie zu retten. So dachte ich an diesem Abend.

20. Kapitel
    Ich verfolgte die Wende, die ich beim ersten Mal frohen und begeisterten Herzens begrüßt hatte, diesmal wie Statler oder Waldorf, die beiden alten Herren in der Loge der Bühne der Muppet Show: als bloßer nüchtern-sarkastischer Betrachter. Nur an der Berliner Demonstration am 04. November 1989 nahm ich noch als halbferner Zuschauer und Zuhörer auf dem Alexanderplatz teil. Ich wollte noch einmal die Stimmung und das Hochgefühl meiner ersten Teilnahme aufleben lassen. Es gelang mir nur sehr unvollkommen. Aber es gab zwei Ausnahmen, zwei Tage und Ereignisse, die ich immer wieder und wieder erleben könnte, sie würden nie zu Langeweile und Gewohnheit werden. Der Erste dieser ganz besonderen Tage war der 9. November. Ich hätte die Grenzöffnung verschlafen, wenn nicht meine Tante kurz vor Mitternacht angerufen und uns aus dem Bett mit der Nachricht geholte hätte: „Die Mauer ist gefallen. Kommt rüber, lasst uns anstoßen!“ Ich glaubte, nicht richtig wach zu sein und einen Traum im Traum zu erleben. Aber meine Frau war schon im Schlafzimmer und zog sich in Windeseile an. Als wir am Grenzübergang in der Friedrichstraße standen und die Menschen in den sogenannten Tränenpalast, die Grenzübergangsstelle, strömen sahen, vor dem ich so oft meine Verwandten abgeholt oder ihnen zur Verabschiedung gewunken hatte, kamen mir die Tränen. Als ich am Kurfürstendamm, Nähe des Bahnhof Zoos stand, die fröhlichen Schreie, das Rufen und Lachen der Menschen aus beiden Teilen der Stadt, das wilde Hupen der Autos und auch hin und wieder das Knallen von Feuerwerkskörpern und von Sektkorken hörte, fühlte ich mich so euphorisiert, dass ich befürchtete, wie ein Ballon in die Luft zu steigen. Freiheit mochte, wie Kant behauptet, nur aus der intelligiblen Welt ableitbar und theoretisch begründbar sein, aber sie am ganzen Körper fühlen und bis ins innerste Mark spüren, wirklich begreifen, was sie praktisch bedeutet, dies konnte man nur in solch seltenen Augenblicken des Lebens. Bei meiner Tante feierten wie bis in die frühen Morgenstunden, so ausgelassen hatte ich meine Tante wohl noch nie erlebt, nach dem dritten Kräuterschnaps begann sie die Nationalhymne zu singen, intonierte aus voller Brust: Einigkeit und Recht und Freiheit. Ein einmaliges Ereignis, aber sie klärte uns auf. „Dein Onkel hat kurz vor seinem Tode prophezeit, dass die Mauer fallen würde und wir wieder alle eine Nationalhymne singen, wieder ein Land werden würden. Nie wieder Passierscheine, nie wieder Grenzkontrollen, nie wieder Tote an der Mauer. Ich habe es nicht für möglich gehalten, aber dein Onkel hat wieder einmal recht behalten.“ Ihr rann eine Träne aus dem rechten Auge. Sie goss sich noch einen Schnaps ein. „Auf deinen Onkel. Auf eine Welt ohne Grenzen und Mauern!
    Wir stießen mit ihr an und ich wusste, dass tatsächlich nicht nur die Mauer endgültig verschwinden, sondern im kommenden Jahr Deutschland wieder vereinigt sein würde. Das zweite Ereignis, das ich ohne zu zögern und ohne Wenn und Aber immer wieder erleben könnte, war der 08. Juli 1990, der Tag des Endspieles der Fußballweltmeisterschaft in Italien. Wir feierten schon vor dem Spiel, es war wie 1954: egal wie stark der Gegner auch war, an diesem Tag würde es nur einen Sieger geben: Deutschland. Und in der Tat – Deutschland schaffte die Revanche für das verlorene Endspiel 1986 in Mexiko. Diesmal gewannen die Deutschen 1:0. Die Wiederholung war meiner Gesundheit sogar viel zuträglicher als das Original, denn als ich das Spiel mit meiner Familie und Freunden beim ersten Mal im Fernsehen sah, bekam ich vor Aufregung fast einen Herzinfarkt, als in der 85. Minute Andy Brehme zum für Deutschland gepfiffenen Foulelfmeter anlief. Ich konnte gar nicht hinsehen. Der Ball landete im Netz und die deutsche Nationalmannschaft leistete mit ihren Siegen bei dieser Weltmeisterschaft mehr für die emotionale Vereinigung der Deutschen als so manche kluge Rede eines Politikers. Als das Spiel abgepfiffen wurde, war auch der Ostberliner Himmel voller Raketen und wurde die Nacht zum Tage gemacht. Wenn ich mir einen Murmeltiertag

Weitere Kostenlose Bücher