Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Taliban in Kabul sein Leben. Mariam Mutter war ein Jahr zuvor einem Krebsleiden erlegen. All dies Wissen beeinträchtigte meine Stimmung bei den gemeinsamen Mahlzeiten enorm, Monique konnte gar nicht verstehen, warum ich oft so schweigsam und nachdenklich war. Wie sollte ich ihr die wahren Gründe klarmachen? Ich unterdrückte meine depressive Stimmung, versuchte mir die positiven Aspekte der weiteren Entwicklung ins Gedächtnis zu rufen: Alle sieben Kinder der Familie besuchten in London Schule und Universität, Mariam heiratete 2005 wieder und folgte ihrem Mann, einem Kanadier, in dessen Heimat. Tschadari eröffnete in London ein kleines afghanisches Restaurant, dass sich bei den zahlreichen im Exil Lebenden aus der Region Afghanistan, Iran, Irak und Pakistan bald großer Beliebtheit erfreute und ihr ein respektables Auskommen sicherte und ihr die Möglichkeit gab, alle Kinder in ihrer Ausbildung zu unterstützen. Warum dieses Restaurant so beliebt war, konnte ich aus eigener Erfahrung nachvollziehen, denn neben Nabila, der eigentlichen Köchin, kümmerte sich während unseres Aufenthaltes vor allem Tschadari um unser leibliches Wohl. Das Zubereiten der Gerichte war für sie eine Art Hobby, sie hatte von klein an, Nabila beim Kochen zugeschaut und sich von ihr alle Rezepte und Zubereitungstricks verraten lassen. Die Abendessen, an denen die gesamte Familie teilnahm, waren kleine Festessen mit sechs oder sieben Gängen. Ich fragte mich, ob ich am Ende unseres Aufenthaltes noch in der Lage sein würde, meine Hose zuzubekommen. Einige der Gerichte kannten wir schon, Mariam hatte uns in Leipzig mehrfach eingeladen, wenn sie einheimische Speisen zubereitete. Aber vielleicht hatte sie nicht alle passenden Gewürze, vielleicht auch nicht das Kochtalent ihrer Schwester, vielleicht fehlte die offene Feuerstelle, auf der hier die meisten Gerichte zubereitet wurden oder aber es lag an der gesamten Atmosphäre: Was wir in Deutschland als fremd und ungewohnt, aber recht schmackhaft tituliert hatten, schmeckte uns jetzt so vorzüglich, dass sich Monique fast alle Rezepte von Nabila aufschreiben ließ und wir später bei kleinen Festen unsere Gäste mit den uns inzwischen vertraut gewordenen afghanischen Gerichten oder Getränken bewirteten: mit dogh, einem Jogurt mit Gurke und Minze, grünen Tee mit Kardamon gewürzt, Bolani, einem knusperigen vegetarischen Fladenbrot, Qurma, einer fleischhaltigen Soße mit geschmortem Fleisch und Reisbeilage, Aalbali Mastawa, einer Lammsuppe mit getrockneten Kirschen, Lammspieße mit Reis, Shola, einem Reisdessert, Panir, einem hellen, wohlschmeckenden Käse, süßen Puddings und viel Trockenobst und, wovon ich nicht genug bekommen konnte: einem Eintopf aus Kalbfleisch und Kartoffeln, den Tschadari mit Knoblauchzehen anreicherte. Selbst wenn das Hauptversteck aller Vampire der Welt im Hindukusch läge, wäre mir nicht bange geworden, bei der Menge, die ich bei einem einzigen Mahl verzehrt hatte, war das Haus und unsere Personen für Wochen vor den Blutsaugern absolut sicher. Sofern man sich auf das Wissen über Vampire und ihre Schwächen und wunden Stellen verlassen konnte oder sie nicht im Laufe der Jahrhunderte gegen Knoblauch resistent geworden waren wie viele Bakterienstämme gegen Antibiotika. Abgesehen vom Essen erinnerte vieles an europäische Verhältnisse, wir befanden uns nicht in einer typischen afghanischen Familie. Frauen und Männer aßen an einem Tisch. Bis auf Nabila hatten alle Frauen und selbst die Mädchen Jeanshosen an, Ahmed schien trotz seiner Buntfaltenhose keineswegs in diesem Hause die Hose anzuhaben. Aber er fühlte sich in dieser Großfamilie offensichtlich wohl und tobte viel mit den Kindern herum. Für seine Neffen und Nichten hatte er eine Ersatzvaterrolle übernommen. Unter den sieben Kindern hatten die zwei Mädchen alles andere als eine Außenseiterposition. Ich musste zugeben, dass Mariam mit ihrem Gang ins Exil 1996 den einzigen vernünftigen Schritt wagen würde. Für die beiden Mädchen wäre das Leben unter den Taliban die Hölle geworden, für die Jungen, die Mickey-Mouse-Hefte in ihren Bücherschränken zu stehen und Plakate von Luke Skywalker an den Wänden befestigt hatten, eine düstere Reise zu Darth Vader und der dunklen Seite der Macht. Ahmed wollte uns so viel wie möglich von Kabul und der weiteren Umgebung zeigen, wir waren fast die gesamten Tage über unterwegs, wir streiften über Basare, kehrten in Teehäuser ein, fuhren in den Vorort
Weitere Kostenlose Bücher