Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
französisches Parfüm, Ahmed schenkten wir einen Fotoapparat von Carl Zeiss Jena, die Schwester Mariams erhielt eine moderne Ledertasche und Mariam einen großen Koffer mit Nagellackproben, Lippenstiften und Hochglanzprospekten. Sie hatte in direkter Nähe der Universität ein kleines Kosmetikgeschäft eröffnet, der Zuspruch war so groß, dass sie zwei Bekannte ihrer Mutter, die einige Zeit in New York gelebt und eine westliche Lebenseinstellung mitgebracht hatten, als Hilfskräfte anstellten. Ihnen ging es nicht um die Einkünfte, ihre Familien waren wohlhabend und sie hätten nicht arbeiten müssen, aber sie wollten berufstätig sein und andere Frauen überzeugen, sich maniküren zu lassen, ihre Haut zu pflegen und zu cremen und ihre Fuß- und Fingernägel schneiden zu lassen und auch farbenfroh zu lackieren. Die Wartezeiten für einen Termin lagen inzwischen bei fast vier Wochen, Mariam plante, ein zweites Geschäft im Künstlerviertel zu eröffnen. Sie strahlte vor Vorfreude. Was sollte ich ihr sagen, was ihr raten? Die eigentlichen Verlierer würden wie so oft bei Kriegen und Machtkämpfen die Frauen sein. Nach der Machtübernahme der Mudschaheddin verloren sie wieder alle, durch das sowjethörige Regime eingeführten Rechte. Als die Taliban 1996 die Mudschaheddin stürzten, wurden die Gesetze noch einmal verschärft. Jetzt musste jede Frau nicht nur ein Kleidergefängnis namens „Burka“ tragen, sondern durfte ohne männliche Begleitung nicht einmal das Haus verlassen. Ihr war verboten, einen Beruf ausüben, Schmuck zu tragen und oder auch nur zu sprechen, wenn sie von einem Mann nicht dazu aufgefordert wurde. Frauen durften nicht in den Krankenhäusern behandelt werden, in denen Männer zur Behandlung waren, das heißt, es gab in der Regel keine medizinische Betreuung für Frauen mehr. Ihre Lebenserwartung sank auf knapp vierundvierzig Jahre. Frauen, die Gesang anstimmten oder tanzten, wurden ausgepeitscht, im Wiederholungsfall schnitt man ihnen die Zunge heraus. Einen Kosmetiksalon zu betreiben, würde bedeuten, dass man sich den Sittenwächtern, von denen mehrere Hundert durch die Stadt patrouillierten, zur Hinrichtung präsentierte. Frauen, die sich die Fingernägel lackierten, trennte man einen Finger der rechten Hand ab. Frauen, die Ehebruch begingen oder denen man diesen Vorwurf machte, wurden gesteinigt, so mancher Afghani entledigte sich auf diese Weise seiner „Altlasten“. Das Vergewaltigen von Frauen war nicht einmal mehr ein Kavaliersdelikt, sondern wurde zum Nationalsport von einigen der Mudschaheddin und solcher, die diesen Namen zur Tarnung eigener krimineller Machenschaften nutzten. Die Zahl der Selbstverbrennungen von Frauen, die aus purer Verzweiflung dem Leben entfliehen wollten, stieg von Jahr zu Jahr und ging in die Hunderte. Das Einzige, was sank, war die Anzahl der angezeigten Übergriffe, Vergewaltigungen, Köperverletzungen oder Tötungen von Frauen. Eine Frau, die eine Vergewaltigung anzeigte, musste mit der Hinrichtung aufgrund außerehelichen Geschlechtsverkehrs rechnen.
Viele Gesetze wurden auch nach dem Sturz der Taliban beibehalten, es war normal, dass ein Sechzigjähriger eine Elf- oder Zwölfjährige ehelichte und sein per Gesetz verbrieftes Recht auf viermaligen Geschlechtsverkehr pro Woche mehr oder minder zärtlich einforderte. Als Gäste und Friedensbesatzer respektierten die alliierten Truppen natürlich die Traditionen und Sitten des Landes, was ihr Ansehen bei den Gotteskriegern dennoch nicht heben konnte und ihnen bei den Millionen unterdrückter afghanischer Frauen wohl auch nicht allzu viel Sympathie einbrachte. Und die verbalen Aufrufe und Proteste westlicher Politiker waren sicher gut gemeint, aber ohne den notwendigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druck nur ein Sack heißer Luft in der Antarktis vor der Klimaerwärmung. Ich wollte Mariam diese Tage, die sie noch genoss, nicht verderben, aber ohne Warnung wollte ich das Land auch nicht verlassen. Am letzten Tag trug ich ihr meine Bedenken vor, sie ließ sich durch meine Warnungen immerhin dazu bewegen, auf die Eröffnung des zweiten Ladens noch solange zu verzichten, bis sich die Lage stabilisiert haben würde. Die Lage stabilisierte sich natürlich nicht, das gesparte Geld half Mariam, 1996 die Heimat zu verlassen und bei einer Tante in London mit ihrer Familie und ihrer Schwester und deren Kindern einen Neuanfang zu wagen. Ihr Vater verlor bei einem Gefecht kurz vor dem Einmarsch der
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