Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
seltene Tiere unseres Landes und auch exotische Säugetiere und Vögel nahe bringen zu können. Zurzeit gibt es etwas über vierhundert Tiere in unserem Zoo. Besonderen Andrang gab es am Gehege von Marjan und Chucha, dem Löwenpaar. Marjan war ein Geschenk des Kölner Zoos. Als ich ihn sah, majestätisch, mit einer riesigen Mähne und stolzem Blick, konnte ich mir erklären, warum viele Kabuler ihn zu ihrem Wappentier und Liebling erkoren hatten. Im Unterschied zu fast allen anderen Tieren überlebte er das Ende der Königszeit. Er überlebte die sowjetische Besetzung, die Straßenkämpfe der Mudschaheddin und ihren Bärenhunger, dem nicht nur die Bären des Zoos, sondern auch der einzige Elefant, eine junge Elefantendame, zum Opfer fielen. Selbst die Explosion einer Granate, die ein Soldat in seinen Käfig warf, konnte er überstehen, allerdings verlor er ein Auge und wurde nun der „einäugige König von Kabul“ genannt.
Auch die Herrschaft der Taliban konnte seinem Leben kein Ende setzen. Bei der Eroberung Kabuls durch die alliierten Truppen war er allerdings schon erbärmlich abgemagert, fast erblindet und lahm. Die neuen Herren sorgten für eine Sterbehilfe auf höchstem Niveau, er bekam frisches Fleisch, Vitamine, einen beheizten Käfig, die besten Betreuer und Tierärzte. Die neue Ära konnte er nur noch wenige Wochen erleben, Ende Januar 2002 schlief er friedlich ein.
Alle Kabuler hofften nach der Befreiung auch für sich auf Frieden, wenngleich nicht auf den ewigen Frieden, der es aber im Laufe der Jahre für einige - und dies nicht aus natürlichen biologischen Gründen - doch werden sollte. Die Anschläge und Angriffe, die sich zunächst auf den südlichen Teil des Landes konzentrierten, näherten sich immer mehr dem Herzen des Landes und je mehr neue Truppen nach Afghanistan verlegt wurden, je stärker wuchs der Widerstand der Gotteskrieger, Warlords, Opiumhändler und all derer, die im Namen Allahs die Steinzeit oder ihren Reichtum oder ihre Macht erhalten oder wiedererobern wollten.
Diese Bilder, auch die vom toten Löwen, die die Fernsehsender 2002 weltweit ausstrahlten, kamen mir bei dem Zoobesuch in den Sinn. Wieder einmal war ich recht schweigsam. Ahmed sprach mich darauf hin an.
„Was ist mit dir, so kenne ich dich gar nicht. Du bist so ruhig und nachdenklich geworden. Gefällt es dir hier nicht?“ Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, mir gefällt es bei euch sehr gut. Ich mache mir nur Sorgen um die Zukunft, ob alles so bleiben wird, wie es jetzt ist.“
„Hast du vergessen, was du für ein Fach studiert hast? Nichts bleibt, wie es ist, alles ist in ständiger Veränderung. Es liegt an uns, diese Veränderungen so zu gestalten, dass es unseren Kindern besser geht als uns heute.“ Er zögert etwas. „Ich weiß natürlich, was du meinst, lass uns heute Abend in Ruhe darüber sprechen.“
Nach dem obligatorischen Menü, diesmal mit einer unvergleichlichen Gemüsesuppe als Vorspeise und nachdem die Kinder zu Bett gebracht worden waren und sich die Frauen zu einem Plausch zurückgezogen hatten, konnten Ahmed und ich das erste Mal unter vier Augen sprechen. Er ging in die Küche und kam mit einer Flasche französischen Weißweins zurück. „Die hat ein Kollege aus Paris mitgebracht. Ich habe sie ihm abgekauft, weil ich wusste, wie sehr du einen guten Weißwein schätzt.“
Ich war gerührt, er hatte bestimmt einen hohen Betrag dafür zahlen müssen und vor allem hatte er in sieben Jahren nichts von meinen oder von Moniques Vorlieben vergessen.
Nachdem wir angestoßen hatten, wollte er wissen, wie es zum Untergang der DDR gekommen war und zur Maueröffnung und zur Wiedervereinigung. Was und wie viel sollte ich ihm berichten, von den Massendemonstrationen, der zunehmenden Unzufriedenheit, der Unfähigkeit der Herrschenden, die Zeichen der Zeit zu erkennen? Oder von den Bilderbergern, oder jenen, die wie Will Smith meinte, hinter ihnen standen und die niemand kannte? Oder sollte ich über die ablaufenden Verhandlungen zwischen den im Dunklen agierenden Köpfen der zweiten Reihe spekulieren, den Aktivitäten der Geheimdienste, die sich die Unzufriedenheit der Massen zunutze machten und sie im eigenen Interesse (oder im Interesse derer, die hinter ihnen standen) dirigierten?
Ich wählte einen Mittelweg und verzichtete auf Spekulationen und persönliche Vermutungen. Er hatte mir gespannt zugehört.
„Manches ist wohl anders gekommen, als wir uns dies noch vor zehn Jahren vorgestellt
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