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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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eroberten. Tausende Mönche haben hier gelebt, es gibt unzählige, in den Fels geschlagene Höhlen, die als Unterkunft dienten und auch Handelsreisende und Pilger beherbergten.“ Die von der Sonne gebleichten Felswände mit ihren Überhängen sahen wie Bienenwaben aus, eine Stadt in Stein gehauen. Es musste viele Jahre gedauert und Abertausende geschickter Hände bedurft haben, um die vielen Höhlen und Nischen und vor allem die riesigen Buddhastatuen aus dem roten Fels herauszumeißeln. Das Bildnis des großen Buddhas war fünfundfünfzig Meter, der zweite Buddha immerhin noch über fünfunddreißig Meter hoch. Als ich zu ihnen hochschaute, ergriff mich ein Gefühl der Bewunderung und Demut.
    Jahre später habe ich beim Betrachten der Pyramiden ein ähnliches Gefühl gehabt, aber längst nicht so intensiv wie in diesem Augenblick. Auch Monique blickte einige Minuten ohne ein Wort zu sprechen zu den Statuen empor. Welche Leistungen hatten Menschen doch in der Geschichte vollbracht. Das Errichten dieser unvergleichbaren Denkmäler mochte Jahre in Anspruch genommen haben, ihre Zerstörung ging schneller, wenngleich nicht so schnell oder so leicht, wie die Taliban sich dies vorgestellt hatten. Ihre Kanonen fügten den Monumenten Schaden zu, konnten den harten Fels aber nicht zerstören, erst viele Tonnen von gezielt angebrachten Sprengladungen führten dazu, dass im März 2001 dieses Kulturdenkmal der Menschheit in Millionen Einzelteile, in Steinbrocken und Staub aufgelöst wurde. Die Welt verfolgte ungläubig und ohnmächtig die Bilder der Sprengung an den Fernsehschirmen. Da ich von dieser Barbarei bei meiner ersten Reise noch nichts ahnte, versäumte ich, noch viel mehr Fotos zu machen und Details wenigstens per Fotografie der Nachwelt oder zumindest meiner Tochter oder ihren Kindern zu erhalten. Ahmed brach das Schweigen. „Kommt, lasst uns die Statuen besteigen.“ Wir waren überrascht. In der Tat, es gab einen Treppenschacht, der eng gewunden an Höhlen und Nischen vorbei, bis zum Kopf des großen Buddhas führte. Wir mussten langsam und vorsichtig gehen, viele Treppen waren unvollständig und von Rissen und Löchern überseht, die man im Halbdunkel kaum erkennen konnte. Aber der mühsame und nicht ganz ungefährliche Aufstieg sollte sich lohnen. Wir standen plötzlich auf einer Art Aussichtsplattform und verloren zum zweiten Mal in dieser Stunde unsere Sprache. Von hier oben konnte man das gesamte Tal überblicken: die Felder, gesäumt von Pappeln und einigen Eukalyptusbäumen, die Wiesen und Weiden, die Kolbas, jene kleinen, einfachen Strohlehmhäuser, in denen oft zehn Familienmitglieder wohnten. Ich sah Pferde, Schafe, Ziegen und vereinzelte Menschen, die wie Ameisen von hier oben aussahen. Alles strahlte Ruhe und Frieden aus. Ein unbeschreiblicher Anblick. Ich holte ein kleines Fernrohr aus meiner Tasche, das ich von meinem Großvater geerbt hatte und dieser wohl in Kriegstagen verwendet hatte. Es bestand aus abgeschabtem schwarzen Metall, war äußerst stabil und hatte eine achtfache Vergrößerung. Ich konnte nun bis zu den Berghängen sehen, die Bauern beobachten, wie sie auf den Feldern mit altmodischen Gerätschaften herumhackten und ich sah einzelne Kraftfahrzeuge, Pferde- oder Eselswagen und auch Fußgänger mit großen Bündeln auf ihren Rücken auf der gewundenen Landstraße. Und ich sah: Will Smith.
    Dies wurde mir erst viel, viel später klar. Selbst bei dem Gespräch in der Villa im Mai 2008 konnte ich mich nicht erinnern, ihn in diesem Tal gesehen zu haben. Erst bei meinem zweiten Aufenthalt, wenngleich an anderer Stelle, erkannte ich ihn sofort und dann kam mir auch das Bild aus dem Bamiyan Tal ins Gedächtnis zurück. Er stand an der geöffneten Fahrertür eines weißen VW-Transporters. Er trug dunkelgrüne Uniform und hatte einen Kolpak auf dem Kopf. Diese schwarze Husarenmütze aus Pelz passte irgendwie nicht zu seinem sonstigen Aussehen. Es war offensichtlich in ein Gespräch mit drei Einheimischen vertieft, die in lange graue Kaftane gehüllt waren und riesige schwarze Turbane trugen. Es gab nichts Auffälliges an dieser Szene und ich ließ meinen einäugigen Blick über andere Details des Tales gleiten. „Ihr müsst uns einmal im Sommer besuchen, dann sieht das Tal noch schöner aus“, meinte Ahmed. Wie gerne wäre ich dieser Aufforderung gefolgt, aber es sollte offensichtlich nicht sein. Und auch die durch meine Sanduhr mir ermöglichte Wiederholung dieses Ausfluges wollte ich nicht

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