Die Geier
Zahl solcher genetischer Dop-
pelgänger weitaus größer, als die unendlich kleine
Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Zufall sich ereigne-
te, vermuten ließ. Es handelte sich um ein echtes Ge-
heimnis, um ein wissenschaftliches Rätsel, an dem die
Forscher sich die Zähne ausbissen. Die am häufigsten
aufgestellte Hypothese, die der vorsichtigere Zorski üb-
rigens nicht verteidigte, stützte sich auf das glückliche
Zusammentreffen von Genverschmelzung und Bluts-
verwandtschaft. Der Chirurg fragte sich, ob Alexander
Sirchos die jüngst zu diesem Thema veröffentlichten
Artikel erst nach den dramatischen Zwischenfällen ge-
lesen hatte oder ob er sie bereits zur Zeit ihrer Veröf-
fentlichung zur Kenntnis genommen hatte und sich
noch sehr genau daran erinnern konnte. Der Milliardär
schien zu beidem fähig zu sein.
Mark Zorski seufzte.
»Mister Sirchos, Ihre Frau hat eine ziemlich seltene
Blutgruppe, ein noch ungewöhnlicheres Blutgewebe
und derart komplexe Eiweißgene, daß ihre ganze aller-
gische Vergangenheit davon bestimmt wird. Außenste-
hende meinen, ich käme einfach so daher, würde mich
mal kurz an den Operationstisch stellen und den vor
mir liegenden Patienten aufschneiden und das kranke
Organ ersetzen, ohne überhaupt zu wissen, wen ich da
vor mir liegen habe. Ich muß zwar zugeben, daß die
Vorstellung, die andere von mir haben, mir nicht miß-
fällt, aber sie ist falsch. Völlig falsch. Ich studiere jede Krankenakte ganz genau und veranlasse zusätzliche
Analysen, wenn sie mir unvollständig erscheint. Wenn
ich einen Menschen operiere, weiß ich alles - oder fast
alles - über ihn. Ich weiß, wann er das erste Mal an Ma-
sern und zum letzten Mal an Pocken erkrankt war, ich
weiß, ob er sich den Bauch mit gebratenen Hähnchen
oder magerem Fisch vollstopft. Soweit das möglich ist -
sogar bei dringenden Fällen -, bemühe ich mich, alles
über das Leben des Patienten in Erfahrung zu bringen.
Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sorg-
fältig ich mich mit der Krankheitsgeschichte von Pamela
Sirchos beschäftigt habe. Die Möglichkeit, daß wir einen
genetischen Doppelgänger finden, ist genauso groß wie
die Wahrscheinlichkeit, daß ein Affe, der aufs Gerate-
wohl auf den Tasten einer Schreibmaschine herum-
klimpert, den Roman Krieg und Frieden neu schreibt.«
Alexander Sirchos' Gesichtszüge verhärteten sich
mehr und mehr. Seit einem Moment hatte er aufgehört,
im Zimmer auf und ab zu gehen; seither bewegte er sich
so gut wie überhaupt nicht mehr und machte den Ein-
druck eines durch schnell bindenden Zement verstei-
nerten Mannes.
»Ich bin nicht Ihrer Meinung«, entgegnete er, fast
ohne die Lippen zu bewegen.
Plötzlich wurden die Kopfschmerzen des Chirurgen
immer stärker; die beiden größten Schmerzherde lagen
genau über den Augenbrauen. Er stützte sich mit den
Ellbogen auf den Schreibtisch und begann sich sanft die
Stirn zu massieren. Er wußte nicht, wie er die Ungeheu-
erlichkeit, die der Milliardär soeben geäußert hatte, in-
terpretieren sollte.
»In dem besagten Artikel behaupten Sie, jeder von
uns hätte zumindest einen genetischen Zwilling ir-
gendwo auf der Welt«, fuhr Sirchos fort. »Und nun wol-
len Sie behaupten, daß das bei Pamela nicht der Fall
ist?«
Mark Zorski streckte die Hände von sich und seufzte,
als stünde er einem ungeschickten und schlecht ausge-
bildeten Praktikanten gegenüber.
»Selbst wenn es diesen Doppelgänger gäbe, so sind
die Chancen, daß er in den nächsten Tagen mit einer Ku-
gel im Kopf und einem gesunden Herzen in ein Kran-
kenhaus eingeliefert wird, gleich Null, Monsieur Sir-
chos. Und wenn Sie diese negative Wahrscheinlichkeit
noch mit der Möglichkeit multiplizieren, daß dieser
Zwilling zwei Monate oder fünfundsiebzig Jahre alt sein
kann, so erhalten Sie eine Zahl mit derart vielen Nullen
hinter dem Komma, daß Sie sie nicht einmal auf fünf-
hundert engbeschriebenen Schreibmaschinenseiten
festhalten könnten. Glauben Sie mir, es hat keinen
Sinn.«
Sirchos lächelte, doch sein Lächeln glich eher dem
Gähnen eines Dinosauriers.
»Sie verlangen von mir, daß ich mich mit der Vorstel-
lung abfinde, daß Pamela in wenigen Tagen stirbt?
Während Sie heute noch lebt?« knurrte er. »Sie kennen
mich schlecht, Doktor Zorski! Ich bin bereit, mein gan-
zes Vermögen - bis zum letzten Cent - für Pamela zu
opfern.«
»Sie haben Ihr Vermögen schon einmal
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