Die Geier
hatte. Der Patient war bereits am Abend zuvor ins
Saint-Louis eingeliefert worden, und selbstverständlich
hätte er sogleich operiert werden müssen. Diese für eine
Intensivstation unbegreifliche Verzögerung hatte dazu
geführt, daß der junge Mann in völlig hoffnungslosem
Zustand auf Gaborits Operationstisch landete. Der Chir-
urg hatte alles versucht. Er hatte den Brustkorb geöff-
net, die für die Blutung verantwortliche innere Ventri-
kelmißbildung entdeckt und behoben und ein Maxi-
mum an Blut herausgepumpt. Leider konnte er einen
normalen Kreislauf nicht wiederherstellen. Sämtliche
Arterien waren verkümmert, und das Blut floß heraus
wie Wasser aus einem alten Gartenschlauch. Es war
nicht das erste Mal seit der Auseinandersetzung zwi-
schen dem Chirurgen und der Krankenhausdirektion,
daß ein solcher Zwischenfall sich ereignete. Wenn das
so weiterginge, würden immer mehr Leichen auf seine
Station gebracht. Und die Rücksichtslosigkeit der Ver-
waltung ließ den Prozentsatz an Gaborits Mißerfolgen
immer größer werden. Man verzieh ihm seine Aufsäs-
sigkeit nicht, und trotz seines Widerstandes zerstörte
man allmählich seinen guten Ruf. Man untergrub seine
Moral, wischte ihn nach und nach von der Bildfläche.
Im ganzen Krankenhaus wurde bereits gemunkelt, Ga-
borit sei nicht mehr mit den Gedanken bei seiner Arbeit,
diese ganzen Todesfälle seien allein ihm zuzuschreiben,
seine Hände würden ihn im Stich lassen, und wahr-
scheinlich würde er unvernünftigerweise viel trinken.
Wie ein Lauffeuer breiteten diese und noch andere Ver-
leumdungen sich aus und bewirkten, daß seine beson-
ders beeinflußbaren und abergläubischen Mitarbeiter
den Antrag stellten, in eine andere Abteilung versetzt
zu werden.
Der starke Duschstrahl befreite den Chirurgen von
den Giften, die sich unter seiner Haut angesammelt hat-
ten, und von einem großen Teil seiner düsteren Ideen.
Mit einer leichten Mahlzeit, einem Glas Bordeaux und
zwei starken Espressos würde er wieder zu Kräften
kommen. Nach der kurzen Phase der Niedergeschla-
genheit, die stets auf den Tod eines Patienten folgte,
empfand er erneut Lust, zu kämpfen und sich zu schin-
den. Nicht nur dem Tod wollte er die Stirn bieten, son-
dern auch dieser Verwaltung, die sich seinen Tod
wünschte.
Er legte sich ein großes Handtuch um die Schultern,
stand lange vor dem leicht beschlagenen Spiegel und
brachte seine Haare wieder in Ordnung. Mit dem
Kamm zwischen den Zähnen trocknete er sich ab und
zog anschließend den rauhen Baumwollkittel auf die
nackte Haut an. Am Abend würde er eine Gegendar-
stellung über den Zustand des jungen Soldaten verfas-
sen, in dem er anderthalb Stunden vor seinem Tod auf
Gaborits Operationstisch gelegt worden war. Entgegen
den Gepflogenheiten würde er die Verteilung der Kran-
kenwagen und die Nachlässigkeit der Nachtdienste an-
prangern, damit die Verwaltung einen Status quo ak-
zeptierte.
Er verließ den Duschraum und ging lässigen Schrittes
ins Restaurant. Er kam an seinem Büro vorbei und sah,
wie eine diensttuende Krankenschwester eine Mittei-
lung an der Magnettafel befestigte. Neugierig trat er nä-
her. Zuerst nahm er den Inhalt der Mitteilung zur
Kenntnis, dann runzelte er überrascht die Stirn und
schließlich, als er den charakteristischen Stempel der
Z.S.A. entdeckte, zuckte er zusammen.
»Was ist denn das?« fragte er.
»Man hat uns befohlen, diese Mitteilung an alle Ärzte
zu verteilen«, erklärte die Frau. »Eine Rückenmark-
transplantation für einen Leukämiekranken. Man sucht
einen genetischen Zwilling. Sie wissen ja, was das be-
deutet.«
Gaborit biß sich auf die Unterlippe. Aufmerksam las
er ein zweites Mal die Zahlen und die Zusammenstel-
lung der verschiedenen Blutkörper. Die pathologische
Eigenart dieser Analysen machte ihn stutzig. Er hatte
das seltsame Gefühl, diese Angaben schon einmal gele-
sen zu haben, konnte sich jedoch nicht erinnern ...
»Einen genetischen Zwilling ...«, seufzte er. »So ein
Quatsch!«
Angesichts der erstaunten und leicht schockierten
Miene der Krankenschwester fügte er hinzu:
»Ein genetischer Zwilling ist Ihre genaue genetische
Entsprechung, eine beinahe perfekte Kopie . . . «
»Ein Doppelgänger?« schluckte die Krankenschwe-
ster.
»Genetisch gesehen, ja«, bestätigte Gaborit. »Aber Ihr
wahrer falscher Zwilling kann auch ein fettleibiger,
kahlköpfiger, zahnloser, schielender alter
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