Die Geier
könnte. Zorski besaß Macht. Und
auf seinem Gebiet war er unbestreitbar der Beste.
Aber Sirchos war dabei, auch ihn zu zerstören, mühe-
los, so wie man ein lästiges Insekt, ein belangloses
Wunder beseitigt. Russel hatte die in den Fachzeit-
schriften erschienenen Artikel gelesen, die die Arbeit
des berühmten Chirurgen kritisierten, und er zweifelte
keinen Moment lang daran, daß Sirchos der Anstifter
dieser Intrige war. Wie alle anderen würde auch Zorski
sich dem Gesetz des Tyrannen beugen.
Der Arzt gluckste, gab drei Eiswürfel in ein Glas und
schenkte sich eine übermäßige Portion Scotch ein.
»Wollen Sie sich betrinken?«
Um ein Haar hätte Russel das Glas fallen lassen. Er
drehte sich um und sah Pamela, die auf der obersten
Treppenstufe stand und sich am Geländer festhielt. Sie
trug ein atemberaubendes perlenbesticktes Neglige, das
ihren nackten Körper wie ein morgendlicher Nebel-
schleier umhüllte. Russel schluckte mühsam. Es war
das erste Mal seit dem Verlassen des Krankenhauses
und der Ankunft in der Villa, daß Pamela sich wieder
geschminkt und ihre Haare zurechtgemacht hatte. Mit
einem Mal sah der Arzt in ihr wieder die wunderbare
Frau, die vor ihrer ersten Herzoperation sämtliche Titel-
bilder der Modezeitschriften schmückte. Angesichts
dieser überwältigenden Erscheinung fühlte er sich ge-
radezu wie ein Vollidiot und war unfähig, Haltung zu
bewahren.
Pamela kam die Treppe herunter und näherte sich der
Bar.
»Ich habe Lust auf einen Gin-Tonic«, sagte sie fröh-
lich. »Gönnt mein Leibarzt mir diese kleine Freude?«
Mit stotternder Stimme gab Russel jenen wenig geist-
reichen Satz zur Antwort, der ihm einige Sekunden
zuvor entfallen war.
»Viel Tonic und einige Tropfen Gin, das scheint mir
durchaus vernünftig zu sein . . . «
Pamela lächelte und trat deutlich näher an ihn heran.
Sie trug vornehme blaue Pumps mit fein gekordelten
schmalen Riemen um die Knöchel. Sie verströmte einen
feinen leichten Duft.
Es gelang Russel, sich diesem Bann zu entziehen, in-
dem er hinter die Theke ging und ihr den Gin-Tonic
einschenkte.
Mit ihren lackierten Fingernägeln trommelte sie leise
gegen sein Glas mit dem Scotch.
»Finden Sie, daß das eine vernünftige Portion ist?«
fragte sie eher liebenswürdig als ironisch.
Er stellte ihr das Glas hin. Das prickelnde Getränk
funkelte im meerblauen Neonlicht seltsam fluoreszie-
rend.
»Erzählen Sie mir ein wenig über sich«, murmelte sie.
Russel riß die Augen auf.
»Über mich?«
»Woher stammt Ihr Vorname?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube, meine Großmutter war ungarischer Her-
kunft.«
»Hugo ...«
Mit zusammengeschnürter Kehle hob Russel den
Kopf.
»Ich möchte mit Ihnen schlafen.«
Einundzwanzigstes Kapitel
Inspektor Mescard schien sich absolut nicht mehr daran
zu erinnern, warum er Mustapha Moussi ins Präsidium
bestellt hatte. Er wühlte in seinen Papieren herum und
fluchte leise vor sich hin, während Mouss ihm verwirrt
zuschaute. Was war das bloß für ein Polizist? Einer aus
einer amerikanischen Fernsehserie? Plötzlich schlug
Mescard sich an die Stirn, eilte zu einem Metallschrank,
riß dessen oberste Schublade auf und holte ein altes
Päckchen zerknitterter Zigaretten hervor.
»Ich wußte doch, daß ich irgendwo welche versteckt
hatte!« sagte er.
Er ging an seinen Schreibtisch zurück, zündete sich
eine Zigarette an und blies den Rauch mit großer Zu-
friedenheit an die Decke. Als sein Blick erneut auf den
jungen Araber fiel, hatte Mouss wirklich das Gefühl, der
Inspektor würde ihn nun tatsächlich fragen, wer er sei
und was er in seinem Büro verloren habe. Jedenfalls
schien der Polizist ziemlich verärgert zu sein, was aller-
dings nicht nur eine Vermutung von Mouss war.
»Letzte Nacht ist Sylvie Vercauteren am Steuer eines
Autos ums Leben gekommen«, sagte Mescard gelassen,
unterließ es jedoch darauf hinzuweisen, daß es sich um
einen gestohlenen Wagen handelte.
In diesem Ton hätte er ebensogut die Wahl seines
Schwagers in den Gemeinderat von Auvers-sur-Oise
bekanntgeben können.
Mouss, der durch die Ereignisse der letzten Zeit völlig
außer Fassung geraten war, zeigte keine Reaktion.
Wahrscheinlich hielt Mescard dieses Schweigen für
Gleichgültigkeit. Er rollte die Zigarette zwischen den
Fingern hin und her, bevor er sich erneut an Mouss
wandte.
»War Fräulein Vercauteren nicht Ihre kleine Freun-
din?« fragte er
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