Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
vielleicht ein Kirchenmann war, der mit dem Delinquenten wachte und betete. Heribert mochte Vorbehalte dagegen haben, einen Priester anzugreifen.
In der völligen Dunkelheit dieser warmen Nacht – der Mond hatte sich hinter dichten Wolken versteckt –, tastete Amra sich die Stiegen des Wehrgangs hinunter und passierte mit klopfendem Herzen den Eingang zum Palas. Hier regte sich allerdings nichts, der Fürst, seine Ritter und seine Gäste schliefen bereits tief. Amra gelangte unbehelligt zum Küchenhaus, versteckte dort ihr Bündel und nahm wieder Laterne und Feuerstein an sich. Heribert würde auf jeden Fall Licht brauchen. Sie selbst kam ohne Kerzenlicht zum Westturm. Es war einfach, den Weg zu finden, wenn man sich nur im Schatten der Mauer hielt.
Amra achtete darauf, sich lautlos entlang der dicken Steinmauer zwischen Palas und Turm zu bewegen – und erstickte einen Aufschrei, als jemand sie plötzlich hart am Handgelenk fasste. Sie wollte Heriberts Namen rufen, hielt sich dann aber zurück. Das war nicht ihr verschworener Ritter. Das Lachen, das aus dem Dunkeln kam, gehörte einem anderen.
»Hab ich’s mir doch gedacht! Ohne ein kleines Lebewohl würdest du deinen Magnus nicht gehen lassen. Das ist jedoch nur ein Traum, mein Täubchen – womit ich nicht sagen will, dass dir diese Nacht schlecht in Erinnerung bleiben wird. Im Gegenteil, meine schöne Amra, heute mache ich dich zur Frau, und morgen bitte ich den Fürsten offiziell um deine Hand. Er wird mir dann etwas schulden, meine Liebste, denn ich werde der Mann sein, durch dessen Waffen Gottes Wille wirkt.«
»Ihr?«, fragte Amra. »Aber … aber Ihr seid König Waldemars Mann!«
Vaclav lachte. »Herr Pribislav behält mich gern an seinem Hof. Er stellte mir sogar ein Amt in Aussicht oder ein Lehen. Wir verstehen uns gut, der Fürst und ich. Natürlich bin ich auch großzügig, er wird sich zweifellos das Recht auf die erste Nacht mit dir ausbitten. Was ihm ja auch zusteht als meinem Fürsten, dessen Gunst mir ermöglicht, dich zur Gemahlin zu nehmen. Schade nur für ihn, dass der Schatz dann schon gehoben sein wird, ich denke hingegen, das macht dem Fürsten nichts. Wer will schon eine Jungfrau? Eine Frau mit Erfahrung ist viel reizvoller. Also lass mich nun sehen, was unser Herr Magnus dich gelehrt hat …«
»Ihr seid widerlich!« Amra wandt sich in seinem Griff. »Ich hasse Euch!«
Vaclav zog Amra an sich und drängte seine Zunge in ihren Mund. Amra versuchte, ihn zu beißen, aber es machte ihn nur noch wilder. Ihre Gedanken rasten. Was konnte sie tun? Amra hielt die Kette, an der die schwere Laterne hing, fest in ihrer Hand. Vaclav hatte sie in seinem Wahn gar nicht beachtet. Die gusseiserne Leuchte … Amra konnte sie als Waffe einsetzen. Sie musste nur eine günstige Gelegenheit abwarten.
Amra überwand sich und erwiderte den Kuss. Sie ließ ihre Zunge durch Vaclavs Mund wandern, umschmeichelte die seine … Vaclav atmete schwer, als er sie endlich losließ.
»Meiner Treu, küssen kannst du!«
Der Mond schob sich hinter den Wolken hervor, und Amra sah das Grinsen auf dem Gesicht ihres Widersachers.
»Ich könnte es noch besser, wenn du mich zu Atem kommen ließest«, behauptete Amra. »Und du willst doch wohl auch nicht jetzt und hier …?«
Vaclav ließ sie los, nur ihr linkes Handgelenk hielt er weiterhin umklammert. »Nein, Süße, nicht, wenn du brav mitkommst. Es gibt angenehmere Orte. Den Stall vielleicht?«
Amra trat einen halben Schritt zurück, und dann schleuderte sie die Laterne mit aller Kraft gegen Vaclavs Schläfe. Der Ritter taumelte, und Amra schlug noch einmal zu. Diesmal traf sie ihn unterhalb des Auges, die Haut platzte auf, sie meinte, Blut zu erkennen. Amra umfasste die Laterne mit beiden Händen, als Vaclav sie jetzt endlich freigab. So kräftig sie konnte, schmetterte sie ihm das Gusseisen noch einmal an den Kopf, ein hässliches Geräusch wie von brechenden Knochen ließ sie erschaudern. Aller Hass auf Vaclav von Arkona entlud sich mit diesem letzten Schlag.
Amra tastete kurz nach ihrem Messerchen, als der Ritter schließlich zusammenbrach, aber Vaclav schien bewusstlos zu sein. So bald würde keine Gefahr mehr von ihm ausgehen.
Heribert wartete bereits im Schatten des Westturms.
»Keine Wächter«, berichtete er. »Hier ist alles still. Aber was ist mit Euch, Frau Amra? Ihr atmet schwer, seid Ihr gerannt? Wir haben keine Eile, wir müssen nur leise sein …«
Amra schilderte Heribert mit knappen Worten
Weitere Kostenlose Bücher