Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
es schließlich genug zu entdecken. Das Gras erschien ihr hier grüner, die Sonne schien die Landschaft in ein anderes, satteres Licht zu tauchen als in ihrer Heimat Rujana. Wenn es regnete, dann stärker und anhaltender als auf der Insel, aber wenn die Sonne schien, so war es wärmer und weniger windig. Die Höfe und Güter im Bayernland waren reich, wohlgenährte Rinder und Pferde grasten auf den satten Weiden, und mitunter blickte man von einem Höhenweg aus herab zu großen Abteien inmitten fruchtbarer Felder. In welchem dieser Frauenklöster hätte sie wohl gelebt, wäre es damals nach Mathilde und nicht nach Herzog Heinrich gegangen?
Amra war froh, dass Graubart und seine Leute niemals die Gästehäuser der Abteien aufsuchten. Das Fahrende Volk war der Kirche nicht sehr verbunden, obwohl besonders die Frauen in Graubarts Truppe durchaus gläubig waren. Priestern, Mönchen und Ordensfrauen brachten die Gaukler eher Misstrauen entgegen, was jedoch auf Gegenseitigkeit beruhte. In der Kirche hörten die Schausteller nie ein gutes Wort, manche Priester geißelten ihre Schäfchen mitunter sogar von den Kanzeln aus für ihre Vorliebe für Wahrsagerei, Kuriositätenkabinette und Wanderhuren.
Auch Dörfer pflegten Graubart und seine Gauklertruppe zu umgehen. Die Bauern kamen zwar gern zur Kirchweih in die nächstgrößeren Orte, aber wenn Fahrendes Volk in ihre Dörfer kam, so verdächtigten sie es gleich des Diebstahls.
»Kleinen Dörfern bleiben wir lieber fern«, erklärte Graubart Amra und Magnus. »Manch harmloser Reisende ist schon am Galgen geendet, wenn einer der braven Dörfler die Gelegenheit nutzte, dem Nachbarn ein Huhn zu stibitzen. Der Gauner ist immer der Gaukler.«
Zwischen den Volksfesten schlug Graubarts Truppe also meist im Wald, gern an den Ufern klarer, zum Teil eiskalter Seen, ihr Lager auf. Amra und Magnus tauchten lachend und schaudernd hinein und bespritzten sich mit Wasser wie Kinder, bevor sie sich auf dem Mantel der Äbtissin liebten. Amra lief barfuß durch die Wiesen, flocht sich Kränze aus bunten Blumen wie in ihrer Kindheit, und je weiter sie sich von Mikelenburg und Braunschweig entfernten, desto unbekümmerter ließ sie auch ihr langes rotes Haar im Wind wehen.
Magnus schaute ihr dabei bewundernd zu, rief sie »Elfe« oder »Waldfee« und rühmte ihre Zauberkräfte, die ihn immer wieder verführten.
Amra liebte seine Schmeicheleien, gab sich ihm im weichen Moos oder auf Lagern aus Farnkraut genüsslich hin und fütterte ihn mit süßen Beeren, die an den Wegrändern wuchsen. Unter den amüsiert nachlässigen Blicken von Graubart und seinen Leuten spielten die beiden Fangen und Verstecken, und am Abend hing der Duft nach Waldmeister und wilden Erdbeeren in Amras Haar. Magnus hatte sich in diesen Monaten vollständig von den Auswirkungen seiner Kerkerhaft erholt, und so langsam verlor er auch die Furcht vor Entdeckung. Er hörte auf, sein Haar zu färben und ließ zu, dass Amra es ihm raspelkurz schnitt, als das Blond wieder durchkam.
»Und wieder ein neuer Mann«, neckte ihn Amra, als sie dann zärtlich über seinen Bauernschopf fuhr. »Wer weiß, ob ich noch in den Himmel komme.« Sie faltete fromm die Hände und kicherte.
»Ich glaube, wir sind beide schon drin«, gab Magnus zurück. »Besser kann es nach dem Sterben auch nicht mehr kommen.«
Auch noch Monate nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht konnten die beiden nicht genug voneinander bekommen. Wieder und wieder erforschten sie ihre Körper und versuchten sich in neuen Spielarten der Liebe. Amra hoffte, dass Magnus seinem Dasein als Ritter zumindest bei Nacht in ihren Armen nicht nachtrauerte. Tatsächlich versicherte er ihr, nie so glücklich gewesen zu sein, und seine strahlenden Augen verrieten, dass er die Wahrheit sprach – bis dann der Morgen wieder graute und die Wanderschaft weiterging. Ein neuer Jahrmarkt – und in Magnus’ Augen neue Schmach und neue Lügen.
So ging der Sommer dahin, und mit dem Herbst verlor das Leben auf der Straße auch für Amra einen Teil seiner Glorie. Es regnete tagelang, und viele Straßen waren unpassierbar. Die Wagen versanken im Schlamm, zweimal kam es zu Achsenbrüchen. Die Nächte wurden kalt, und die Planen über den Wagen trockneten kaum noch zwischen den Regentagen, sodass sich Magnus und Amra nachts unter klammen Decken aneinanderschmiegten, um einander zu wärmen. Amra fühlte sich jetzt auch oft müde. Die Arbeit und die Reisen, die ihr am Anfang so viel Spaß gemacht
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