Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
der fantasievollen Deutung des Orakels. Als Svantevit-Priester, so hielt ihm Amra lachend vor, hätte er kläglich versagt.
»Das Pferd muss den Leuten bestätigen, was sie gern hören wollen«, erklärte sie ihm wieder und wieder, »aber dann musst du das Urteil abschwächen und eine Hintertür offen lassen, für den Fall, dass sich doch alles anders entwickelt. Die Leute sollen ja wiederkommen … Im nächsten Jahr ist hier erneut Markt.«
Amra sagte das ganz selbstverständlich, aber Magnus graute erkennbar vor der Vorstellung, noch ein weiteres Jahr mit den Gauklern unterwegs zu sein. Er sagte nichts – schließlich war auch er sich darüber im Klaren, dass es keine bessere Tarnung für sie gab, als mit den Schaustellern zu ziehen. Dazu kamen die Einkünfte. Als Tagelöhner hätte er sehr viel weniger verdient und obendrein den Argwohn der Bauern auf sich gelenkt. Man merkte ihm ja an, dass er nicht in einer Kate geboren war.
Natürlich gab es auch bei den Schaustellern gelegentlich Situationen, in denen die beiden Geflüchteten zitterten. Nicht jeder Gaukler war so ehrlich wie Graubart oder seine Truppe. Auch Taschendiebe und anderes Gelichter fand sich auf den Märkten, und wenn sie es zu wild trieben, jagten die Städter das gesamte fahrende Volk mit Schimpf und Schande fort. Graubart trug das mit Fassung, es gehörte einfach zum Leben auf der Straße, Magnus hingegen war jedes Mal wieder in seiner Ehre gekränkt.
Auf die Dauer musste sich etwas anderes finden als Bauchtanz und Pferdeorakel – Magnus grübelte nächtelang über einer Lösung.
Amra merkte natürlich, dass Magnus seine Rolle im Spiel mit dem Pferd ablehnte, und nahm ihm so viele damit verbundene Aufgaben wie möglich ab. Schließlich ging sie dazu über, ihre ohnehin ziemlich unsichere Handlesekunst mit dem Pferdeorakel zu verbinden und die Deutung gleich selbst zu übernehmen. Sie hatte sich immer gern Geschichten ausgedacht und schon als Kind für jeden Ungehorsam eine Ausrede gefunden. Selbst Graubart zollte ihr Respekt, als sie auch auf heikelste Fragen elegante Antworten gab.
»Der Hengst hat Eure Frage mit Ja beantwortet, Eure Frau wird ein Kind mit dem Herzen eines Löwen zur Welt bringen! Es wird ein Kämpfer sein, der zu höchsten Ehren aufsteigt. Wahrscheinlich ein Junge, wie Ihr hofft, aber wenn es doch ein Mädchen werden sollte, dann wird es sich früh mit einem ebenbürtigen Mann verbinden, und sie werden gemeinsam zu Ruhm und Reichtum gelangen. Sorgt Euch nicht, guter Mann: Eure männlichen Nachkommen werden zahlreich sein wie die Sterne am Himmel.«
»Das hätte ich auch nicht besser hinbekommen«, freute sich Graubart, als er die Anekdote abends am Feuer erzählte. »Du hast Talent, liebe Amra! Vielleicht sollten wir die Lande verlassen, in denen man euch wiedererkennen könnte. Dann könnten wir auf Burgen und an Adelssitzen auftreten und Silbermünzen scheffeln statt Kupferpfennige.«
Diese Idee fand bei den anderen zwar keine Gegenliebe – weder Huren noch Bader waren auf Adelssitzen willkommen, und Musikanten gab es dort genug –, aber Amra freute sich doch über die Anerkennung. In diesem Sommer bei den Gauklern verbrachte sie die schönste und unbeschwerteste Zeit ihres Lebens. Die Arbeit auf den Jahrmärkten machte ihr Spaß, ebenso die Reisen durch das Herzogtum Heinrichs des Löwen. Es schauderte sie, wenn sie stundenlang durch dunkle Wälder fuhren, ohne einer Menschenseele zu begegnen, aber dann wiederum war sie voller Bewunderung für die größeren Städte, trutzigen Burgen und fruchtbaren Felder im Süden. Bezaubert blickte Amra eines Morgens in einen nach langen Regenfällen endlich klaren Himmel und sah zum ersten Mal in ihrem Leben die Alpen. Nie hätte sie gedacht, dass es auf der Welt so hohe Berge geben konnte! Und war es wirklich möglich, sie zu Fuß oder zu Pferde zu überwinden?
Magnus erzählte ihr lächelnd, dass Kaufleute und auch Fahrende Ritter das ständig taten. An den Höfen in Italien, Sizilien und anderen südlichen Ländern gab es Turniere und oft auch Schlachten zu schlagen, er selbst war jedoch nie so weit nach Süden vorgedrungen.
»Es gibt Pässe, meine Liebste, die durch die Berge führen … zu einfach darfst du es dir jedoch auch nicht vorstellen. Selbst im Sommer kann es zu Wettereinbrüchen und Schneestürmen kommen, viele Wege sind schmal und gefährlich zu begehen.«
Amra war damit zufrieden, auf der nördlichen Seite der Berge zu bleiben. Auch im Herzogtum Bayern gab
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