Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
zudem ein bisschen mulmig bei dem Gedanken, von einem Tag auf den anderen vor der Tür des Stralower Kaufmanns zu stehen. Magnus argwöhnte im Stillen, dass Baruch vielleicht nicht die Wahrheit gesagt hatte, als er damals erzählt hatte, er sei Witwer. Womöglich hatte er eine Gattin und ein Haus voller jüdischer Kinder. Amra fragte sich ängstlich, ob er überhaupt noch am Leben war. Und was würden sie machen, wenn er gar nicht in Stralow, sondern auf Rujana oder auf irgendeiner Geschäftsreise weilte? Sie beide hegten allerdings keinen Zweifel an Baruchs Hilfsbereitschaft. Amra vertraute ihrem väterlichen Freund blind, und Magnus schalt sich dafür, dass er nicht früher darauf gekommen war, sich dem Kaufmann anzuvertrauen. Stralow war von Rostock nur zwei Tagesritte entfernt, sie hätten sich schon im Frühjahr an den Juden wenden können.
»Wenn Herr Baruch nicht da ist, setzen wir einfach nach Rujana über und gehen erst mal nach Vitt«, schlug Amra am letzten Abend der Reise vor – das Wort Vater konnte sie noch nicht aussprechen, sie war immer noch wie vor den Kopf geschlagen ob ihres neuen Wissens.
Amra und Magnus hatten entschieden, noch eine Nacht unter freiem Himmel zu lagern, bevor sie Stralow aufsuchten. Die Stadt war von Teichen und Sumpflandschaft umgeben, ideal zur Verteidigung, wie Magnus bemerkte, als sie durch das spärlich bewaldete Gebiet ritten. Es regnete endlich einmal nicht, und obwohl es Amra vor dem kalten Wasser graute, wusch sie doch noch einmal ihre Sachen und spülte ihr Haar mit einer sündhaft teuren, in Lübeck auf dem Markt erstandenen Seife. Auch Magnus tauchte mit Todesverachtung in einen eisigen Teich, um sich zu reinigen, und bat Amra, seinen Bart zu stutzen. Er konnte nicht stolz als Ritter in die Stadt einreiten, aber einen ungepflegten Eindruck wollte er dennoch nicht machen.
»Ein paar Tage können wir uns in Vitt verstecken, und dann sehen wir weiter.«
Magnus seufzte. Die Überfahrt nach Rujana für den Wagen und die zwei Pferde würde ihr Erspartes zusammenschrumpfen lassen. Er machte sich über ihre finanziellen Rücklagen keine Illusionen – was den Gauklern nach einer Saison blieb, war genug, um sich im Winter zu ernähren. Doch wo sollten sie wohnen, wenn Baruch ihnen nicht unter die Arme griff?
Trotz aller Sorgen freute sich Amra wie ein Kind, als die Ostsee schließlich wieder vor ihnen lag. Das Wasser spiegelte den grauen Himmel wider, im Hafen von Stralow dümpelten die kleinen, flachen Boote der Ranen und einige größere Segler aus Dänemark. Die Hafenanlage erinnerte entfernt an Lübeck, war allerdings wesentlich kleiner. Immerhin gab es Speicherhäuser und Schreibstuben der Händler. Stralow gehörte zu den wichtigsten Handelszentren der Umgebung, hier kreuzten sich die Wege zwischen Rujana, Stettin, Demmin und Rostock.
Magnus fragte einen Fischer nach dem Kaufmann Baruch und atmete auf, als der Mann ihm gleich den Weg wies.
»Die Kaufleute haben ihre Häuser alle nah am Hafen«, erklärte er.
Amra und Magnus lenkten ihre Pferde durch enge, noch unbefestigte Straßen auf einen Marktplatz zu. Die meisten der Behausungen, die sie passierten, waren aus Holz gebaut, es gab erst wenige Steinhäuser. Eine Kirche war noch im Bau, aber das war nichts Ungewöhnliches. Überall im Herrschaftsbereich des Ranenfürsten Jaromar entstanden christliche Kirchen. Tetzlavs Nachfolger hing dem neuen Glauben aus Überzeugung an und wirkte entsprechend auf seine Untertanen ein. Ein jüdisches Viertel, wie Amra und Magnus es aus bajuwarischen Städten kannten, gab es in Stralow nicht. Die Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinde lebten wohl in der Stadt verstreut.
Baruch gehörte sicher zu den Begüterten unter ihnen. Sein Haus lag zentral zwischen Marktplatz und Hafen, allerdings erschien es Magnus und Amra nicht sehr groß. Schmal, dafür hoch, lag es wie eingequetscht zwischen anderen, ähnlichen Gebäuden. Es gab keine Durchfahrt zum Hof, die breit genug für ihren Wagen war. Aber wahrscheinlich verfügte Baruch über ausreichenden Lagerplatz am Hafen. Amra erinnerte sich, dass er zwar viel mit Heringen handelte, jedoch weder ihren Geruch noch Geschmack besonders mochte. Sicher wollte er nicht in der Nähe der gespeicherten Fässer wohnen.
»Suchen wir uns gleich einen Mietstall, oder schauen wir erst mal, ob er zu Hause ist?«, fragte Magnus.
Er hatte kein gutes Gefühl und wollte die Entscheidung, an die Tür des Stadthauses zu klopfen, hinauszögern. Im
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