Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
hatten, empfand sie nun als anstrengend und erschöpfend, und sie war ständig hungrig, ganz gleich, wie viel sie aß.
Schließlich zogen sie wieder gen Norden. Nach Hamburg machten sie sich nun Richtung Lübeck auf. Eines Abends gesellte sich Graubart zu Amra und Magnus ans Feuer.
»Habt ihr beide euch denn schon über ein Winterquartier Gedanken gemacht?«, fragte er freundlich.
»Ein Winterquartier?« Amra nagte heißhungrig an einem Hühnerbein und hielt jetzt inne. Verwundert sah sie Graubart an. »Wollt ihr uns loswerden?«
Graubart lachte. »Aber nein, schönste Amira, Zierde des Harems des Sultans. Wie sollte ich je den Wunsch verspüren, mich ohne Not von dir zu trennen? Aber Spaß beiseite, Amra, ihr glaubt doch nicht, dass wir den ganzen Winter über weiterziehen? Im Winter gibt es keine Jahrmärkte – und wir würden uns ja den Tod holen, wenn wir bei Eis und Schnee in unseren klammen, kalten Wagen hausten! Nein, nein, hier hat jeder eine winterliche Zuflucht, die meisten in dieser Gegend. Gesine und ich haben eine hübsche kleine Kate westlich von Lübeck.« Der hochgewachsene Magier und die Zwergin waren trotz des Größenunterschiedes ein Paar und gingen sehr liebevoll miteinander um. »Gesine stammt von dort – die armen Zwerge suchen sich ja ihr Schicksal als Gaukler nicht aus, die werden irgendwo in einer Reihe ganz normal großer Kinder geboren …«
… und dann meist als Missgeburten und Kreaturen der Hölle mit Schimpf und Schande fortgejagt, wenn sie plötzlich nicht mehr wachsen, dachte Amra. Sie wusste inzwischen vom Schicksal der Kleinwüchsigen, denen nichts anderes übrig blieb, als ein Talent als Gaukler oder Musikant zu entwickeln und sich auf Jahrmärkten zu verdingen. Die Glücklichsten fanden an Fürstenhöfen einen Platz als Hofnarren. Jeder König und jede Königin wünschte sich einen eigenen Zwerg und verwöhnte ihn dann mitunter wie einen Jagdhund oder ein Kätzchen. Kein Leben in Würde, aber ein Leben.
»Gesines Schwester lebt dort, und sie hütet uns die Hütte im Sommer. Sie liegt abseits im Wald, den Köhler und die Pferdehirten stören wir nicht, und die anderen Dörfler bekommen uns gar nicht zu sehen.«
Martha und Gunda hatten einen Zufluchtsort bei Schwerin und dort auch ihre winterlichen Einkünfte. Goliath zog mit ihnen, hielt ihnen das Bett warm und beschützte sie vor zudringlichen Freiern und wütenden Hurenwirten, denen die Nebenbuhler auf dem Land nicht schmeckten. Der Bader, der immer gute Einnahmen hatte, unterhielt zu Amras Überraschung gar ein Stadthaus in Schwerin, wo Frau und Kinder auf ihn warteten.
»Wir treten jedenfalls noch in Lübeck auf«, endete Graubart schließlich, »aber dann geht jeder seiner Wege. Bis zum nächsten Frühjahr. Und dann seid selbstverständlich auch ihr wieder willkommen. Und das Kleine … in diesem Winter würde es doch sowieso nicht mehr viel mit dem Bauchtanz …«
»Das Kleine?«, fragte Magnus verwirrt.
Graubart lächelte. »Nun kommt, Kinder, seid ihr die Einzigen in der Truppe, denen noch nicht aufgefallen ist, dass unsere Amira guter Hoffnung ist?«
Magnus sah Amra an. Natürlich hatte er gemerkt, dass sich ihr Leib etwas gerundet hatte. Bisher hatte er das allerdings auf ihren in der letzten Zeit unstillbaren Appetit zurückgeführt.
Amra schürzte die Lippen. »Ich … ich bin nicht sicher«, murmelte sie. »Ich hab schon vermutet, dass vielleicht …«
Graubart verdrehte die Augen. »Mädchen, wenn man ein halbes Jahr lang die Finger nicht voneinander lassen kann, dann sollt’s einen doch nicht wundern, wenn da irgendwann was Kleines wächst! Wär eher komisch, wenn es anders wäre! Freut’s dich denn?«
Amra errötete. Weder auf Rujana noch an den Höfen, an denen sie gelebt hatte, war einer Frau jemals diese Frage gestellt worden. Man nahm die Kinder, wie sie kamen, ob es einem gefiel oder nicht. Sie wusste allerdings von der Existenz von Engelmacherinnen – Martha hatte zwei Monate zuvor eine aufsuchen müssen – und erinnerte sich oft mit leisem Bedauern an Barbara. Eine solche Frau hätte der jungen Klosterfrau helfen können. Amra würde jedoch nie in Erwägung ziehen, ihrem eigenen und Magnus’ Kind das Leben zu verwehren.
»Wenn’s Magnus freut …«, gab sie vorsichtig zurück.
Magnus blickte Amra immer noch ungläubig an, aber nun wurde er zärtlich. »Ein Kind?«, fragte er. »Wirklich ein Kind? Natürlich freut’s mich! Es freut mich unbändig! Nur …«, Magnus biss sich auf die
Weitere Kostenlose Bücher