Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
»Werde ich jemals groß und schön werden und gerade wie eine Birke am Bachesrand?«, erkundigte sie sich in ebenso großen Worten, wie Graubart sie wählte, wenn er mit seinem Publikum sprach.
Amra führte den Hengst mit ernster Miene auf den Schal zu, verkürzte vor dem Überschreiten des Hindernisses mit einem kurzen Zupfen am Halfter seinen Schritt, und der Fuchs setzte gelassen zuerst den linken Huf über den Schal.
Amra wandte sich kopfschüttelnd und mit freundlichem Bedauern an Gesine. »Nein, sosehr es mich schmerzt, gute Frau. Aber das Orakel spricht die Wahrheit, ich kann da nichts beschönigen. Der Hengst hat Euer Pfand zuerst mit dem linken Fuß überschritten, das heißt, das Schicksal kann Euch die Erfüllung Eures Wunsches nicht gewähren. Aber habt Ihr gesehen, wie erhaben das Ross seine Beine setzte und wie freundlich es Euch ansah? Das Schicksal gedenkt durchaus, Euch zu erhöhen, gute Frau, und vielleicht werdet Ihr einmal ganz froh über Euren kleinen Wuchs sein, wenn Euch etwa eine Königin zu ihrer Zwergin wählt.«
»Genug, genug!« Gesine und die anderen Gaukler lachten und klatschten in die Hände.
»Was für eine originelle Art, den Leuten die Zukunft zu deuten!« Graubart griff augenblicklich in die Luft, zauberte einen Apfel hervor und verfütterte ihn an das Pferd. »Mach das noch mal! Und jetzt lass ihn Ja sagen … Meiner Seel, dass ich auf Jahrmärkten noch mal was Neues sehe!«
»So neu ist das auch wieder nicht.«
Amra lächelte und wiederholte das Kunststück bereitwillig. Der Streithengst war gut geschult, er ließ sich sehr viel leichter zum Verkürzen oder Verlängern seiner Schritte bewegen als damals Herrn Baruchs Stute.
»Aber das ist doch ganz einfach!«, wandte Magnus verwirrt ein. »Man sieht sofort, wie du es machst! Selbst wenn ich es mache, ist es leicht durchschaubar.«
Er stand auf, nahm Amra das Pferd ab und führte den Fuchs selbst über den Schal. Mit absolut unsichtbaren Hilfen.
»Ach was, kein Mensch sieht das!«, widersprach Amra. »Auf Rujana hat es nie einer …«
Sie unterbrach sich. Die Gaukler mussten nicht wissen, woher das Orakel kam.
»Ein Ritter oder Pferdebursche mag erkennen, wie es geht«, begütigte Graubart. »Aber nur, wenn er sich ernstlich die Frage stellt, ob man betrügt oder nicht. Sieh, junger Freund, ich kann auch keine Äpfel aus dem Nichts schaffen, und Tiberius schluckt nicht wirklich Feuer. Aber die Leute glauben es und bestaunen unsere Künste, weil sie es glauben wollen. Und wenn man das Kunststück noch dazu mit so schönen und klugen Worten begleitet wie unsere junge Freundin hier …«, er lächelte Amra zu, »… dann wird auch der größte Rossbändiger dazu keine Fragen stellen.«
Amra nickte. Auch unter den Gläubigen des Orakels von Rujana hatte es Ritter gegeben, die jeden Schritt ihres Streitrosses bestimmen konnten. Aber an den Fähigkeiten der heiligen Pferde des Svantevit hatten sie nie gezweifelt.
»Nun, also, Freunde!«, erklärte Graubart und zog seine nächste Überraschung einmal nicht aus der Luft, sondern unter dem Bock seines Planwagens hervor – einen gut gefüllten Weinschlauch. »Begrüßen wir in unserer Mitte zwei Künstler aus dem Orient, die der Wind des Schicksals an unsere Gestade geweht hat, auf dass sie die Besucher unserer Jahrmärkte erfreuen und erleuchten: Amira, die Schöne, gestohlen aus dem Harem des Scheichs von Arabien – und den heldenhaften Recken, der sie aus der schmachvollen Gefangenschaft befreite: El Magnífico und sein wahrsagendes Ross!«
Die Gesellschaft applaudierte.
»Aber unser junger Ritter sieht nicht aus wie ein Held aus dem Orient«, wandte Martha, die zweite Hübschlerin ein. »Ich hab mal auf einem Jahrmarkt einen Araber gesehen, die sind dunkel. Aber Magnus hat blondes Haar …«
… das uns obendrein leicht verraten kann, dachte Amra. Man wird nach einem blonden Ritter suchen und nach einer rothaarigen Frau. Sie beschloss, ihr Haar in Zukunft unter einem Schleier zu verbergen, auch wenn sie tanzte.
»Kann man … kann man daran nicht etwas ändern?«, fragte sie vorsichtig.
Kurz darauf wusch sich Magnus unter den ernsten Blicken des Baders mit einem Sud aus Walnussschalen Haar und Bart. Der Mann riet ihm, die Lösung so lange wie möglich einwirken zu lassen. Magnus wartete ungeduldig, bis er sein Haar schließlich ausspülen durfte – und erkannte sein eigenes Spiegelbild im Weiher kaum wieder.
»Ja, so sah der Mann aus dem Orient aus!«, erklärte
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