Die Geisel
Textseiten zu finden. Sie überflog die Einleitung. Sie schien ungelenk und ohne jede Inspiration geschrieben zu sein. Bis aus diesem spärlichen Manuskript ein Buch wurde, war es sicher noch ein weiter Weg. Ihr kamen ernsthafte Zweifel, ob er sich wirklich mit einem Verleger treffen wollte. Es wirkte eher wie ein Fluchtversuch. Eigentlich war es bedrückend, wie sehr Stig mit seinem Projekt gekämpft hatte und wie gering der Ertrag seiner Anstrengungen war.
Sie nahm die beiden letzten Valium. Sie musste sich ein neues Rezept besorgen. Sie schämte sich über ihren erneuten Missbrauch, der binnen kürzester Zeit eskaliert war. Doch zumindest bediente sie sich nicht aus den Vorräten in der Praxis, was im Vergleich zu früheren Zeiten ein klarer Fortschritt war.
Die Sonne brannte durch das Panoramafenster in Majas Büro. Begierig setzte sie die Flasche Mineralwasser an die Lippen. »Der serbische Schlächter« war die Schlagzeile der Zeitung, die auf der Kante ihres Schreibtischs lag. Die Presse schwelgte immer noch in den makabren Details, die hinsichtlich Sørens Ermordung ans Tageslicht kamen. Vor allem dem Mörder Petro Dubowitz wurde viel Aufmerksamkeit zuteil. Katrine hatte bei der Auflistung seiner Verbrechen nicht übertrieben. Sein Vorstrafenregister schien kein Ende zu haben. Maja wusste, dass sie seinen Namen schon mal irgendwo gehört hatte, konnte sich aber nicht genau erinnern. Dieser Gedanken piesackte sie wie ein Stein im Schuh. In diesem Moment kam Skouboe zur Tür herein, dicht gefolgt von Alice. Mit dramatischer Geste warf er einen A4-Umschlag auf ihren Schreibtisch. Maja schaute ihn überrascht an.
»Unser Anwalt hat sich den Kaufvertrag genau angesehen …«
»Und?«
»Hatte nicht die geringsten Einwände«, sagte er lächelnd. Er legte Alice den Arm um die Schultern und drückte sie an sich.
Maja zog den Vertrag aus dem Umschlag und warf ihm einen verschmitzten Blick zu. »Dann sind wir also Partner?«
»Fehlt nur noch eine klitzekleine Unterschrift«, antwortete Skouboe und zeigte auf die letzte Seite.
Sie blätterte den Vertrag durch und sah, dass er bereits unterzeichnet hatte. Mit ihrer Unterschrift würde die Hälfte seiner Praxis in ihren Besitz übergehen.
»Lass sie ihn doch erst mal lesen«, sagte Alice.
»Hab ich schon oft genug getan«, entgegnete Maja und griff nach ihrem Kugelschreiber.
»Dann würden wir heute Nachmittag zu einem Glas Portwein bitten, um die Begebenheit gebührend zu feiern«, sagte Alice. »Und natürlich werden wir es dann auch offiziell bekanntgeben.«
Maja konnte sich ein Lächeln über ihre gestelzte Ausdrucksweise nicht verkneifen. Sie spürte, dass dies auch für die beiden ein großer Augenblick war. Schließlich war es ihr Lebenswerk, an dem sie nun beteiligt wurde. Maja war sichtlich gerührt. »Soll ich mit der Unterschrift nicht vielleicht bis heute Nachmittag warten? Bis wir alle versammelt sind?«, fragte sie und stellte den Kugelschreiber in den Becher zurück.
»Das ist eine sehr gute Idee«, antwortete Alice.
»Dann haben wir auch gleich ein paar Zeugen«, scherzte Skouboe.
»Wie wäre es, wenn du auch Stig mitbringst«, schlug Alice vor.
Maja starrte auf die Tischplatte. »Das ist nett, aber ich glaube, er ist zu sehr mit seinem Buch beschäftigt.«
Alice nickte. »Ich sage den anderen, dass wir uns um halb vier Uhr im Frühstücksraum treffen.«
Als Skouboe und Alice verschwunden waren, betrachtete sie den Vertrag. Es war eine faire Abmachung, die Skouboe eine ordentliche Pension und ihr ein Fundament bescherte, auf dem sie ihre Zukunft aufbauen konnte. Doch dieser Gedanke machte sie traurig. Was als krönender Abschluss ihrer langen Ausbildung gedacht war, kam ihr nun nichtig und leer vor. Sie hatte den Sieg errungen, konnte die Freude darüber aber mit niemandem teilen. Dass Stig fort war, tat ihr weh, aber dass sie auch noch Walther verloren hatte, schien ihr jetzt unerträglich.
Der Schock hatte sie ganz ausgefüllt. Doch erst jetzt schien ihr die ganze Tragweite ihres Verlusts bewusst zu werden. Sie würde Walther zeit ihres Lebens vermissen. Niemals würde sie die ersten Worte hören, die er sprach, ihn niemals zu seinem ersten Schultag begleiten. Es würde keine Kindergeburtstage geben, zu denen er alle seine Freunde einladen könnte. Sie würde niemals erleben, wie aus ihm ein großer, starker und gesunder Junge wurde. Würde ihn nicht glücklich verliebt erleben. Ihr war die Möglichkeit geraubt worden, ihn
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