Die Geisel
er rieb sich die Schläfen. Er konnte sich nicht mehr an ihn erinnern.
Die Deckenlampe blinkte ein paar Mal, ehe sie ganz erlosch. Das geschah immer öfter und für immer längere Zeit. Aber das war ihm egal. Allmählich wünschte er sich, sie würde nie mehr angehen. Dass keine neue Luft mehr kam. Dann hätte er endlich Ruhe. Dann wäre alles bald überstanden.
Aber das Licht kehrte auch diesmal zurück.
45
Das Taxi vor dem Haus hupte zweimal. Stig nahm seinen Koffer und ging zur Haustür. Er trug ein blaues T-Shirt und khakifarbene Shorts. Die Sonnenbrille hatte er in die Haare geschoben. Er sah aus wie ein Chartertourist, und man konnte ihm nicht ansehen, dass er sich gerade aus Majas Leben verabschiedete. Maja betrachtete seinen Koffer. Mehr hatte er also nicht in ihre Beziehung mitgebracht. Ihr gemeinsames Heim, das sie per Kreditkarte bei Ikea und Ylva erworben hatte, ließ er ihr zurück. Wäre ja auch nicht leicht gewesen, die Chaiselongue in der monkey class mit nach Tromsø zu nehmen.
»Ich rufe dich an, wenn ich gelandet bin.«
»Super«, sagte sie und lächelte ohne Begeisterung.
In der offenen Tür drehte er sich noch einmal um, beugte sich ungelenk über seinen Koffer und umarmte sie rasch.
»Grüß deinen kleinen Bruder und den Schmied«, sagte sie.
»Natürlich«, antwortete er, ohne sie anzusehen. Dann drehte er sich um und ging zum Taxi.
Es bereitete ihr Magenschmerzen, ihn in das Auto steigen zu sehen, aber aufhalten wollte sie ihn nicht. Sollte er doch gehen, wenn er unbedingt wollte. Er war ihr blind nach Dänemark gefolgt. Hatte versucht, sich ihrem Leben anzupassen. Sie hatte ihn nie gefragt, ob es das war, was er wirklich wollte. Hatte alles als gegeben hingenommen. Entweder war er zu schwach, um dagegen anzukämpfen, oder er hatte sie so sehr geliebt, dass er alles mitgemacht hatte. Als das Taxi davonfuhr, begriff sie, dass alles allein ihr Traum gewesen war. Das Haus in der hübschen Wohngegend, die einträgliche Privatpraxis, der Mercedes in der Garage, zwei Komma fünf Kinder, die im Garten spielten, und ein attraktiver Schriftstellermann, der schon mit dem Essen auf sie wartete, wenn sie abends nach Hause kam. So hatte sie Stig in die Idylle ihrer Kindheit verpflanzt, um ein ewiges Glück zu konservieren. Ihre eigene kleine Wunschinsel. Ihr Nimmerland. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Was hatte sie eigentlich gedacht, wie Stig sich in diesem Leben einrichten sollte?
Sie schloss die Haustür und ging ins Wohnzimmer. Ihre Beziehung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Tragödie mit Walther hatte den Prozess nur beschleunigt. Stig hatte sein Buchprojekt über eine gesunkene Fähre vorangetrieben, bis ihre eigene Beziehung Schiffbruch erlitt.
Sie fühlte sich leer. Öd wie eine Wüste.
Sie ging ins Arbeitszimmer und fuhr den Rechner hoch, um ihre E-Mails zu checken. Stig war so großzügig gewesen, ihr auch den gemeinsamen Computer dazulassen, und hatte seine Dateien auf seinen Laptop kopiert. Dafür war sie ihm umso dankbarer, weil sie keine Ahnung hatte, wie man einen neuen installierte. Sie wusste, dass es eigentlich nicht in Ordnung war, dennoch warf sie einen Blick in seinen Ordner. Die Liste seiner E-Mails und Dokumente war lang. Sie enthielt Interviews mit überlebenden Passagieren, Angehörigen der Opfer und Rettungskräften.
Sie scrollte nach unten und sah, dass unter den Absendern der E-Mails des Öfteren ein Name auftauchte, den sie kannte: Linda Lind. Linda war eine der Sekretärinnen in der Praxis gewesen, in der Maja früher gearbeitet hatte. Sie hatte sie als einfältiges Flittchen in Erinnerung, zu der sie nur wenig Kontakt gehabt hatte. Ihrer Korrespondenz konnte sie entnehmen, dass Lindas Vater bei der Schiffskatastrophe ums Leben gekommen war - wovon Linda früher nie etwas erzählt hatte. Nach Walthers Tod war der Ton zwischen Stig und Linda immer vertrauter geworden. Sie schrieben von ihrem Verlust, dem mangelnden Verständnis ihrer Umgebung und von ihrer Einsamkeit.
Stig hatte Linda mitgeteilt, dass er nach Norwegen fahren wolle - zwei Tage, bevor er es Maja gesagt hatte. »Das freut mich«, hatte sie geantwortet.
Maja fühlte sich betrogen. Es war die Art der Untreue, die man nicht beweisen konnte, die aber ebenso schmerzte, als wäre sie wirklich passiert.
Ganz unten auf der Liste der Dokumente fand sie das Manuskript zu seinem Buch: Viben M/S - mit dem Tod auf dem Meer. Sie öffnete die Datei und war überrascht, nur dreißig
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