Die Geisha - Memoirs of a Geisha
mir sah, das Speisereste aufsammelt.
Mit zitternden Händen kleidete ich mich an, so gut es ging. Doch ohne Hilfe konnte ich nicht mehr tun, als mein Unterkleid zu schließen und es mit dem Taillenband zu befestigen. Also wartete ich vor dem Spiegel und betrachtete mit einiger Sorge mein verschmiertes Make-up. Ich war bereit, falls nötig, eine ganze Stunde zu warten. Doch es vergingen nur wenige Minuten, bis der Baron zu mir zurückkehrte. Er hatte sich den Gürtel seines Bademantels wieder fest um den dicken Bauch gezurrt. Wortlos half er mir in den Kimono und sicherte ihn, genau wie Herr Itchoda es getan hätte, mit meinem datejime. Während er meinen endlos langen Obi in den Armen hielt und ihn in Schlaufen legte, um mich sodann hineinzuwickeln, machte sich ein furchtbares Gefühl in mir breit, das ich zuerst nicht einordnen konnte. Es durchdrang mich, wie ein Fleck Stoff durchdringt, und dann verstand ich es: Es war das Gefühl, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben. Zwar wollte ich im Beisein des Barons nicht weinen, aber ich konnte einfach nicht anders – und außerdem hatte er mir, seit er ins Zimmer zurückgekommen war, kein einziges Mal in die Augen gesehen. Ich versuchte mir vorzustellen, ich wäre einfach ein Haus, das im Regen steht und an dessen Vorderseite das Wasser herunterrauscht. Aber der Baron mußte es gesehen haben, denn er ging hinaus, und als er gleich darauf zurückkam, hatte er ein Taschentuch mit seinem Monogramm mitgebracht. Er sagte, ich könne es behalten, aber nachdem ich es benutzt hatte, ließ ich es einfach auf dem Tisch liegen.
Schließlich führte er mich in den vorderen Teil des Hauses und entfernte sich, ohne ein Wort mit mir zu sprechen. Kurz darauf erschien ein Diener mit dem wieder in Leinenpapier gewickelten antiken Kimono, den er mir mit einer Verbeugung überreichte. Dann begleitete er mich zum Automobil des Barons. Auf der Rückfahrt ins Gasthaus weinte ich im Fond leise vor mich hin, doch der Chauffeur gab vor, es nicht zu bemerken. Ich weinte jetzt nicht mehr über das, was mir zugestoßen war, denn mir lag etwas anderes viel schwerer auf dem Herzen: Was würde geschehen, wenn Herr Itchoda mein verschmiertes Make-up bemerkte, wenn er mir beim Auskleiden half und den schlecht geschürzten Knoten meines Obi sah, wenn er dann das Päckchen öffnete und das kostbare Geschenk entdeckte, das ich erhalten hatte? Bevor ich den Wagen verließ, trocknete ich mir mit dem Taschentuch des Direktors das Gesicht, aber das nutzte auch nicht mehr viel. Herr Itchoda warf mir nur einen einzigen Blick zu und kratzte sich am Kinn, als wüßte er genau, was geschehen war. Während er im oberen Zimmer meinen Obi löste, fragte er mich:
»Hat der Baron dich entkleidet?«
»Es tut mir leid«, antwortete ich.
»Er hat dich entkleidet und im Spiegel betrachtet. Aber er hat sich nicht mit dir vergnügt, dich berührt oder sich auf dich gelegt, oder?«
»Nein, Herr.«
»Dann ist es gut«, sagte Herr Itchoda und blickte starr geradeaus. Danach wurde zwischen uns beiden kein einziges Wort mehr gesprochen.
23. KAPITEL
Ich will nicht behaupten, daß ich mich ganz beruhigt hatte, als der Zug früh am folgenden Morgen in den Bahnhof von Kyoto einfuhr. Wenn man einen Stein ins Wasser wirft, bebt das Wasser schließlich auch noch weiter, wenn der Stein zu Boden gesunken ist. Doch als ich die Holztreppe zum Bahnsteig hinabgestiegen war – Herr Itchoda immer einen Schritt hinter mir –, bekam ich einen so großen Schock, daß ich für eine Weile alles andere vergaß.
Denn dort hing in einem Glaskasten das neue Werbeplakat für die Tänze der Alten Hauptstadt der diesjährigen Saison, und ich blieb stehen, um es mir anzusehen. Zwei Wochen waren es noch bis zu dem großen Ereignis. Das Plakat war erst am Tag zuvor verteilt worden, vielleicht während ich auf dem Anwesen des Barons umherwanderte und hoffte, dem Direktor zu begegnen. Der Tanz hat jedes Jahr ein spezielles Thema, etwa »Die Farben der vier Jahreszeiten in Kyoto« oder »Berühmte Orte aus der Heike-Geschichte«. In diesem Jahr lautete das Thema »Das schimmernde Licht der Morgensonne«. Das Plakat, natürlich von Uchida Kosaburo gezeichnet, der seit 1919 nahezu jedes Plakat geschaffen hatte, zeigte eine Lerngeisha, die in einem bezaubernden grün und orange gemusterten Kimono an einer geschwungenen Holzbrücke steht. Ich war erschöpft nach meiner langen Reise und hatte im Zug nur schlecht geschlafen, deswegen blieb ich eine
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