Die Geisha - Memoirs of a Geisha
sollen.«
»Aber wie hätte ich dann diese schöne Insel sehen können?«
»Du warst doch bestimmt noch nie so weit von zu Hause fort, nicht wahr? Wir sind jetzt genauso weit von Kyoto entfernt wie Hokkaido.«
Die anderen waren schon um die nächste Kurve gebogen. Über Nobus Schulter hinweg sah ich den Giebel des Gasthauses über das Laubwerk der Bäume ragen. Ich wollte ihm antworten, hatte jedoch denselben Gedanken wie zuvor im Flugzeug – daß Nobu mich nicht verstand. Kyoto war nicht mein Zuhause, nicht in dem Sinn, wie Nobu es meinte, nämlich der Ort, wo ich aufgewachsen war, und ein Ort, den ich niemals verlassen hatte. In diesem Moment, während ich ihm in der heißen Sonne ins Gesicht sah, faßte ich den Entschluß, diesen Plan, vor dem ich mich fürchtete, auszuführen. Ich würde Nobu verraten, obwohl er jetzt dastand und mich freundlich musterte. Mit zitternden Händen steckte ich mein Taschentuch ein, und ohne ein Wort stiegen wir weiter den Hügel hinauf.
Als ich das große Zimmer erreichte, hatten der Direktor und Mameha bereits am Tisch Platz genommen und mit einem Spiel Go gegen den Bankdirektor begonnen, während Shizue und ihr Sohn zusahen. Die Glastüren an der hinteren Wand standen offen, der Minister stützte sich auf einen Ellbogen, starrte hinaus und pellte die Hülle von einem kurzen Stück Zuckerrohr, das er sich mitgebracht hatte. Ich fürchtete sehr, Nobu würde mich in ein Gespräch verwickeln, dem ich mich nicht versagen konnte, aber er ging direkt zum Tisch und begann eine Unterhaltung mit Mameha. Noch hatte ich keine Ahnung, wie ich den Minister mit mir zusammen in das Theater locken konnte, und noch weniger, wie ich es anstellen sollte, daß Nobu uns dort ertappte. Vielleicht würde Kürbisköpfchen Nobu auf einem Spaziergang dorthin führen, wenn ich sie darum bat, Mameha mochte ich nicht um diese Gefälligkeit bitten, aber Kürbisköpfchen und ich waren fast zusammen aufgewachsen, und obwohl ich sie nicht unbedingt als ungehobelt bezeichnen würde, wie Tantchen es getan hatte, lag in Kürbisköpfchens Wesen doch eine gewisse Primitivität, so daß sie über meinen Plan vermutlich nicht so entsetzt wäre. Ich würde sie ausdrücklich anweisen müssen, mit Nobu ins alte Theater zu gehen, denn rein zufällig würden sie uns nicht aufstöbern.
Eine Zeitlang kniete ich da, starrte auf das sonnenbeschienene Laub hinaus und wünschte, ich könnte den schönen tropischen Nachmittag genießen. Immer wieder fragte ich mich, ob es nicht doch Wahnsinn sei, einen solchen Plan in Erwägung zu ziehen; aber wie groß meine Bedenken auch sein mochten, es genügte nicht, um mich an der Durchführung zu hindern. Natürlich würde nichts geschehen, bis es mir gelang, den Minister beiseite zu nehmen, und dabei konnte ich es mir nicht leisten, Aufmerksamkeit zu erregen. Kurz zuvor hatte der Minister die Dienerin gebeten, ihm einen kleinen Imbiß zu bringen; jetzt saß er da, winkelte die Beine um ein Tablett, kippte sich Bier in den Mund und schaufelte sich mit den Stäbchen Berge von gesalzenem Tintenfischgekröse in den Rachen. Das hört sich vielleicht widerlich an, aber ich versichere Ihnen, daß Sie in ganz Japan Bars und Restaurants finden können, wo es gesalzenes Tintenfischgekröse gibt. Es war eine Leibspeise meines Vaters gewesen, aber ich habe dieses Gericht nie essen können und mochte dem Minister dabei nicht mal zusehen.
»Minister«, wandte ich mich leise an ihn, »wäre es Ihnen lieber, wenn ich Ihnen etwas Appetitlicheres hole?«
»Nein«, sagte er, »ich bin nicht hungrig.« Ich muß gestehen, daß ich mich daraufhin schon fragte, warum er eigentlich aß. Inzwischen waren Mameha und Nobu, in ein Gespräch vertieft, zur Hintertür hinausgegangen, und die anderen, darunter Kürbisköpfchen, hatten sich um den Tisch mit dem Go-Brett versammelt. Wie mir schien, war dies die Gelegenheit für mich.
»Wenn Sie aus Langeweile essen, Minister«, fragte ich ihn, »hätten Sie dann nicht eher Lust, mit mir das Gasthaus zu erkunden? Ich wollte es mir schon die ganze Zeit ansehen, aber bisher hatten wir keine Zeit dazu.«
Ich wartete seine Antwort nicht ab, sondern erhob mich und verließ den Raum. Zu meiner Erleichterung kam er einen Augenblick später zu mir auf den Flur heraus. Schweigend gingen wir den Korridor entlang, bis wir zu einer Ecke kamen, wo ich sehen konnte, daß aus beiden Richtungen niemand kam. Ich blieb stehen.
»Entschuldigen Sie, Minister«, begann ich, »aber…
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