Die Geisha - Memoirs of a Geisha
zog die Schuhe über meine Hände, damit ich sie nicht fallen ließ, und begann mich auf dem Dachfirst entlangzuschieben, was sich weitaus schwieriger gestaltete als erwartet. Die Dachziegel waren so dick, daß sie dort, wo sie einander überlappten, fast eine kleine Stufe bildeten, und sobald ich mein Gewicht verlagerte, begannen sie zu klappern, es sei denn, ich bewegte mich im Schneckentempo. Und jedes Geräusch hallte von den umliegenden Dächern wider.
Ich brauchte mehrere Minuten, um auf die andere Seite unserer Okiya zu gelangen. Das Dach des Nachbargebäudes lag eine Stufe tiefer als das unsere. Ich stieg hinab und hielt einen Moment inne, um einen Weg zur Straße hinunter zu suchen, doch ich sah nichts als tiefe Finsternis. Das Dach war viel zu hoch und steil, so daß ich nicht mal daran denken konnte, mich auf gut Glück hinabgleiten zu lassen. Da ich keineswegs sicher war, daß das nächste Dach günstiger wäre, geriet ich in leichte Panik. Aber ich fuhr fort, von einem Dachfirst zum anderen zu rutschen, bis ich kurz vor dem Ende des Häuserblocks in einen offenen Innenhof hinabblickte. Wenn es mir gelang, zur Dachrinne hinabzuklettern, konnte ich mich daran entlang weiterschieben, bis ich zu einem Gebäude kam, das ein Badehaus zu sein schien. Vom Dach des Badehauses konnte ich dann mühelos in den Innenhof gelangen.
Die Vorstellung, inmitten eines fremden Hauses zu landen, behagte mir gar nicht. Es handelte sich zweifellos um eine Okiya, denn in unserem Block gab es nichts anderes. An der Vordertür würde höchstwahrscheinlich irgend jemand auf die Rückkehr der Geishas warten und mich, sobald ich hinauszulaufen versuchte, am Arm festhalten. Und was, wenn die Vordertür, genau wie unsere, verschlossen war? Wäre mir eine Wahl geblieben, ich hätte diesen Weg nicht mal im Traum in Betracht gezogen. Aber ich hielt diesen Weg für den sichersten, der sich mir bot.
Lange blieb ich da auf dem Dachfirst sitzen und lauschte auf irgendein identifizierbares Geräusch aus dem Hof. Doch alles, was ich hörte, waren das Gelächter und die Stimmen von der Straße. Ich hatte keine Ahnung, was ich in diesem Hof vorfinden würde, wenn ich landete, aber ich fand, ich sollte losklettern, bevor jemand aus meiner Okiya meine Flucht entdeckte. Hätte ich eine Ahnung gehabt, wie sehr ich mir damit schadete, hätte ich auf diesem Dachfirst kurz entschlossen kehrtgemacht und wäre sofort wieder nach Hause gerutscht. Aber ich ahnte nicht, was auf dem Spiel stand. Ich war ein Kind, das glaubte, ein großes Abenteuer vor sich zu haben.
Ich schwang ein Bein hinüber, so daß ich an der Dachschräge hing und mich nur noch mühsam am First festzuhalten vermochte. In panischer Angst stellte ich fest, daß dieses Dach viel steiler war, als ich erwartet hatte. Ich versuchte mich wieder hochzuziehen, schaffte es aber nicht. Mit den Toilettenschuhen an den Händen konnte ich mich nicht richtig am Dachfirst festklammern, sondern nur die Handgelenke darüberhaken. Jetzt wußte ich, daß mir keine Wahl mehr blieb, denn ich würde nie wieder hinaufklettern können; doch ich argwöhnte, daß meine Rutschpartie das Dach hinunter im selben Moment, da ich losließ, außer Kontrolle geraten würde. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber bevor ich mich noch richtig entschlossen hatte, wurde mir die Entscheidung abgenommen. Ich rutschte das Dach hinunter, zuerst langsamer, als ich erwartet hatte, so daß ich wieder zu hoffen wagte, ich könne dort, wo das Dach nach außen schwang, um den Vorsprung zu bilden, wieder Halt finden. Dann aber trat mein Fuß einen der Dachziegel los, der mit einem laut klappernden, scharrenden Geräusch hinabrutschte und im Innenhof unten zersprang. Gleich darauf entglitt mir einer der Toilettenschuhe und kollerte an mir vorbei. Ich vernahm ein leichtes Plop, als er unten landete, doch dann kam ein weitaus schlimmeres Geräusch: das Geräusch von Schritten, die sich auf einem hölzernen Verandagang dem Innenhof näherten.
Immer wieder hatte ich beobachtet, daß Fliegen auf einer Wand oder Decke genauso sicheren Halt fanden wie auf ebener Erde. Ob das nun daher rührte, daß sie klebrige Füße hatten, oder daher, daß sie so leicht waren, wußte ich nicht, doch als ich hörte, wie sich unten jemand näherte, beschloß ich, eine Möglichkeit zu finden, mich wie eine Fliege ans Dach zu klammern, und zwar schnell, sonst würde ich im nächsten Moment im Innenhof landen. Also versuchte ich, zuerst meine
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