Die Geisha - Memoirs of a Geisha
überhaupt nicht. Also gingen wir weiter, in Richtung Shijo-Avenue. Schon bald entdeckte ich zwei Geschäftsleute in westlichen Anzügen, doch auch bei ihnen hatte ich kein Glück. Ich glaube, sie erkannten Mameha, aber vielleicht hielten sie sie auch nur für schöner als mich, denn sie wandten den Blick keine Sekunde von ihr.
Ich wollte schon aufgeben, als ich einen Botenjungen von etwa zwanzig Jahren sah, der ein Tablett mit aufgetürmten Essensschachteln trug. In jenen Tagen lieferten viele Restaurants in Gion außer Haus und schickten am Nachmittag einen Laufjungen los, der die leeren Schachteln wieder einsammelte. Gewöhnlich wurden sie in einer Kiste gestapelt, die entweder getragen oder auf ein Fahrrad geschnallt wurde; warum dieser junge Mann ein Tablett benutzte, wußte ich nicht. Wie dem auch sei, er war noch einen halben Block entfernt und steuerte direkt auf mich zu. Ich merkte, daß Mameha ihn ansah, dann sagte sie: »Sorge dafür, daß er das Tablett fallen läßt.«
Und bevor ich entscheiden konnte, ob das vielleicht ein Scherz war, bog sie in eine Seitenstraße ein und war verschwunden.
Ich glaube nicht, daß ein Mädchen von vierzehn Jahren – oder, was das betrifft, eine Frau jeden Alters – einen jungen Mann dazu bringen kann, etwas fallen zu lassen, nur indem sie ihn auf eine ganz bestimmte Art ansieht – solche Dinge geschehen höchstens im Kino oder in Romanen. Und ich hätte aufgegeben, ohne auch nur den Versuch zu machen, wenn mir nicht zweierlei aufgefallen wäre: Erstens beäugte mich der junge Mann bereits wie eine hungrige Katze die Maus, und zweitens hatten die meisten Straßen von Gion keine Bordsteinkanten, diese jedoch hatte eine, und der Laufjunge ging auf der Straße dicht daran entlang. Wenn ich ihm so nahe kam, daß er auf den Gehsteig treten mußte und über die Bordsteinkante stolperte, ließ er das Tablett möglicherweise fallen. Also begann ich damit, den Blick auf den Boden vor meinen Füßen zu senken, und dann versuchte ich denselben Trick, den Mameha wenige Minuten zuvor bei mir angewendet hatte. Ich hob den Blick, bis er für einen Sekundenbruchteil den des jungen Mannes traf, und wandte ihn dann sofort wieder ab. Nach ein paar weiteren Schritten wiederholte ich das Ganze. Inzwischen starrte er mich so durchdringend an, daß er das Tablett auf seinem Arm völlig vergessen zu haben schien, ganz zu schweigen von der Bordsteinkante. Als wir uns sehr nahe gekommen waren, änderte ich meinen Kurs ein winziges bißchen, so daß er nicht an mir vorbeikam, ohne auf den Gehsteig treten zu müssen. Dann sah ich ihm direkt in die Augen. Er versuchte mir auszuweichen, sein Füße verhakten sich, wie erhofft, an der Bordsteinkante, und er fiel seitlich auf den Gehsteig, so daß seine Schachteln über das Pflaster rollten. Unwillkürlich lachte ich auf. Glücklicherweise fing der junge Mann ebenfalls an zu lachen. Ich half ihm, seine Schachteln einzusammeln, und schenkte ihm noch ein leichtes Lächeln. Daraufhin verneigte er sich so tief vor mir, wie es noch nie zuvor ein Mann getan hatte, und ging seiner Wege.
Kurz darauf kam Mameha, die den kleinen Zwischenfall genau beobachtet hatte.
»Ich glaube, du bist jetzt wirklich soweit«, sagte sie. Damit führte sie mich über die Hauptstraße in die Wohnung ihres Wahrsagers Waza-san und ließ ihn für all die verschiedenen Veranstaltungen, die zu meinem Debüt führen würden – wie etwa der Besuch im Schrein, um den Göttern mein Vorhaben mitzuteilen, der erste Gang zum Friseur, um mir die Haare richten zu lassen, und die Zeremonie, die aus Mameha und mir Schwestern machen würde –, die günstigsten Daten herauszusuchen.
In jener Nacht tat ich kein Auge zu. Das, was ich mir seit so langer Zeit wünschte, war nun endlich greifbar nahe, und, o Himmel, wie sich mein Magen verkrampfte! Die Vorstellung, in die exquisiten Gewänder gekleidet zu werden, die ich so sehr bewunderte, und mich einem Raum voller Männer zu präsentieren, ließ meine Handflächen schweißnaß werden. Jedesmal, wenn ich daran dachte, spürte ich, wie mich von den Knien bis zur Brust ein köstliches, nervöses Prickeln überlief. Ich stellte mir vor, ich sei in einem Teehaus und schiebe die Tür zu einem Tatami-Zimmer auf. Die Männer wandten sich um und starrten mich an, und natürlich gehörte der Direktor zu ihnen. Manchmal stellte ich mir vor, er wäre allein in dem Zimmer und trüge keinen westlichen Anzug, sondern die japanische Kleidung, die so viele
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