Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Schmeißfliege.
Vor dem Mittagessen, als das Vorzimmer endlich leer ist, empfängt er einen Besucher, der ohne Vorankündigung gekommen ist.
»Verzeihen Sie bitte, dass ich einfach so hierhergekommen bin, aber mein Sohn schickt mich, und es ist sehr wichtig«, sagt Don Eduardo Conde, der mit Silberstöckchen und Bowlerhut vor den großen Fenstern stehengeblieben ist, während er unter dem getrimmten Schnurrbart lächelt.
»Ich will Ihnen keine Zeit stehlen, sondern nur Octavios Auftrag ausführen. Mein Junge ist seit Sonntag wegen einer Sache aufgebracht, die für ihn seitens der Schulkameraden eine reine Ungerechtigkeit und seitens der Jesuitenpadres pure Willkür ist. Ich muss zugeben, dass ich niemals gedacht hätte, dass mein Sohn so ein Verfechter der Gerechtigkeit ist, und dass mir durchaus gefällt, wie er seinen besten Freund verteidigt. Das adelt ihn in meinen Augen, und ich denke, Sie sollten seine Aussage berücksichtigen. Mein Sohn sagt, dass Amadeos Tätlichkeiten kein Angriff waren, sondern eine berechtigte Verteidigung. Am Abend vor dem Familienbesuch haben Amadeos Schulkameraden eine unverzeihliche Missetat gegen ihn begangen, indem sie seine Leistung und sein Talent zu ihren Gunsten ausgenutzt haben, das heißt, indem sie ihm das Ergebnis seiner monatelangen Arbeit gestohlen haben. Amadeo hat nichts davon gesagt, berichtet mein Sohn, weil es lächerlich gewesen wäre, dies vor allen anderen zu tun. Außerdem konnte er nichts beweisen, und höchstwahrscheinlich hätten die anderen Jungen seiner Aussage widersprochen und ihn noch lächerlicher gemacht. Deshalb hat Amadeo das Recht selbst in die Hand genommen und statt für eine öffentliche Anklage sich für eine persönliche Abrechnung entschieden. Ich denke, die Leidenschaft seiner Jugend könnte sein Verhalten rechtfertigen.«
Rodolfos Tag wird mit den Worten des ehrenwerten Bekannten nicht besser, den er als einen seriösen und aufrichtigen Mann schätzt.
»Sie haben ›gestohlen‹ gesagt? Wie meinen Sie das?«
»Mein Sohn sagt, dass Amadeo seit seinem Eintritt ins Internat jeden Tag malt. Und zwar sehr gut. Manchmal schreibt er auch. Selbstverständlich nur heimlich, weil die Jesuitenpadres solche Vergnügungen nicht dulden, erst recht nicht außerhalb der Klassenzimmer. Offensichtlich bewahrt Ihr Sohn seine Aufsätze und Zeichnungen unter der Matratze auf. Die anderen Schüler haben sein Versteck entdeckt und ihm die Sachen weggenommen.«
»Wer?«
»Octavio hat mir keine Namen nennen wollen.«
»Ich verstehe. Wissen Sie, ob mein anderer Sohn auch daran beteiligt war?«
»Octavio hat mir nichts darüber gesagt.«
»Was ist aus den Bildern geworden?«
»Alle Bilder wurden bei dem Wettbewerb am letzten Wochenende ausgezeichnet. Die Sieger haben stolz ihre Preise eingeheimst, erinnern Sie sich noch? Dabei hätte Amadeo alle Preise erhalten müssen, denn anscheinend war alles sein Werk.«
Rodolfo versucht, sich an die Bilder zu erinnern, mit denen am vergangenen Sonntag die Gänge im Internat dekoriert waren. Sie waren großartig. Selbst ein für die Kunst nicht geschultes Auge konnte das erkennen.
»Können Sie sich noch an dieses hervorragende Gedicht über die Berufung erinnern, das Juan vorgetragen hat?«, fragt Eduardo.
Natürlich erinnert sich Rodolfo daran. Er war so stolz gewesen, dass man seinen jüngeren Sohn ausgewählt hatte, vor dem Publikum im Internat ein eigenes Werk vorzulesen. Juan hatte seine Eltern ja schon an brillante Leistungen gewöhnt, aber dieses Mal schien er sich selbst übertroffen zu haben. Er kann sich aber auch daran erinnern, dass Amadeo während des gesamten Auftritts sehr niedergeschlagen war und auch nichts sagte, als ihn seine Mutter, noch begeistert von den erhabenen Ideen in Reimform, zärtlich tadelte: »Liebling, schau mal, ob du etwas von deinem Bruder lernen kannst und uns eines Tages auch mit so schönen Versen überraschst. Ich weiß genau, dass du das auch kannst.«
Rodolfo öffnet die Augen.
»Octavio hat mir berichtet, dass dieser Vortrag, für den wir Juan so applaudiert haben, Amadeos Werk ist. Er hat selbst gesehen, wie Amadeo Abend für Abend in der Einsamkeit der Zelle daran geschrieben hat«, fügt Eduardo Conde noch an, während mehrere Falten seine marmorne Stirn überziehen.
Rodolfo verflucht die Stunde, die er bei dem sonntäglichen Fest im Internat verbracht hat. Von sich aus würde er niemals dieser furchtbaren Zurschaustellung von Familienstolz und der falschen religiösen
Weitere Kostenlose Bücher