Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Rodolfo Lax schüttelt den Kopf. Nicht, weil er die Maßnahmen für streng hält, sondern weil er nichts von allem, was da vor sich geht, versteht.
»Könnten Sie bitte so freundlich sein und mir den Vorgang erklären?«, bittet er.
»Aber hat Ihnen der Schuldige nicht selbst davon erzählt?«, fragt der Priester zurück.
»Seit er hierher gekommen ist, weigert er sich zu sprechen.«
Padre Iñesta verzieht angestrengt den Mund.
»Sie müssen ihn eben zwingen«, meint er, bevor er selbst lustlos den Vorfall berichtet: »Am Montagmorgen, während der Zeit im Studierzimmer, hat Amadeo zwei seiner Schulkameraden und sogar seinen eigenen Bruder tätlich angegriffen. Einem hat er einen Zirkel in den Arm gerammt. Den anderen, einen eher schmächtigen Jungen, der unter Asthma leidet, hat er zusammengeschlagen und dabei dessen Oberlippe und Nase verletzt. Juan ist besser davongekommen, denn nach dem ersten Schlag in den Unterleib sind ihm andere Mitschüler zu Hilfe gekommen. Als er sich umzingelt sah, ist Amadeo durch das Fenster geflohen. Zum Glück hat er beschlossen, zu Fuß hierherzukommen, wie wir später erfahren haben. Als die Saalaufsicht hinzukam, war er nirgends mehr zu sehen.«
»Sie können sich nicht vorstellen, wie leid mir das tut«, flüstert Rodolfo beschämt. »Geht es den anderen Jungen wieder besser?«
»Ja, Gott sei Dank. Sie sind nur ein wenig aufgebracht. Natürlich nicht so sehr wie ihre Eltern.«
»Das kann ich mir vorstellen. Amadeo wird sich schriftlich bei ihnen entschuldigen.«
»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Ich denke, es ist besser, wenn er sie persönlich um Entschuldigung bittet. Und zwar einen nach dem anderen. Damit er es begreift.«
Rodolfo berechnet wortlos, während er sich nachdenklich über das Kinn streicht, den Zeitverlust, den ihn der ganze Vorfall kosten wird.
»Ich verspreche Ihnen, dass ich darüber nachdenken werde und dass Amadeo für seinen Fehler einstehen wird«, sagt er.
»Daran hege ich keinen Zweifel.«
»Und für die Schule möchte ich Ihnen eine Zuwendung machen, die den dunklen Vorfall wieder gutmacht.«
Don Rodolfo greift zum Scheckheft mit dem Zeichen der Banco de Barcelona, stellt einen Scheck auf eine übertrieben hohe Summe aus, unterschreibt und übergibt ihn dem Internatsleiter.
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. In unserer Gemeinschaft gibt es immer dringende Bedürfnisse, die erfüllt werden müssen. Aber wenigstens hat Ihr Sohn in Ihnen ein Vorbild, an dem er sich orientieren kann.«
Don Rodolfo begleitet Padre Iñesta zur Tür und stellt ihm den Wagen der Familie mit Julián am Steuer zur Verfügung, um zum Internat zurückzufahren. Der Jesuit nimmt das Angebot an.
Als Don Rodolfo in sein Kabinett zurückkehrt und die Unordnung auf seinem Schreibtisch betrachtet, ist er verwirrt. Es fällt ihm schwer, seine Gedanken von dem Problem mit den Jesuiten abzuwenden und sich auf das Tagesgeschäft zu konzentrieren. Und noch schwerer fällt ihm, nicht Amadeo herbeizuzitieren und an ihm seine ganze aufgestaute Wut auszulassen.
Zum Glück für seinen Sohn liegen dringende Geschäfte an. Der nächste Tagesordnungspunkt ist ein Grundstückskauf. Und zwar nicht irgendeiner.
»Die Grundstücke liegen genau neben der Kirche, die gerade errichtet wird. Und zwar in der Calle Valencia, Calle Mallorca und Calle Rosellón, genau dort, wie Sie mir aufgetragen haben«, verkündet ein kränkelnder Anwalt mit zitternder Hand.
Don Rodolfo betrachtet den Plan der Gegend um die Sagrada Familia. Er gibt ein zufriedenes Brummen von sich.
»Sie sind teuer«, fügt der kurz vor dem Ruhestand – oder dem Kollaps – stehende Jurist hinzu.
»Wenn es tatsächlich dazu kommt, dass um die Kirche überall Grünanlagen entstehen, wird sich ihr Preis in wenigen Jahren vervierfachen. Sie wissen ja, niemand wagt es, sich mit Gaudí anzulegen. Kaufen Sie die Grundstücke so bald wie möglich.«
»Man hat mir gesagt, dass man versucht, den Nuntius des Vatikans kommen zu lassen, um den Stand der Bauarbeiten zu besichtigen.«
»Welchen Stand der Bauarbeiten? Da stehen doch erst drei oder vier Steine!«, lacht Don Rodolfo. »Meinetwegen soll er ruhig kommen, wir werden sie ihm gerne zeigen. Mit dem päpstlichen Segen werden die Preise noch mehr steigen!«
Die Dinge laufen gut, aber heute kann Rodolfo nichts genießen. Nicht einmal das Dekolleté seiner geliebten Rorrita. Die Gedanken an das Fehlverhalten seines Ältesten stören ihn wie eine lästige
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