Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Gastfreundschaft beiwohnen. Als würde es nicht ausreichen, das wöchentliche Martyrium zu ertragen – je mehr er nun versucht, den Wirrwarr zu ergründen, um so weniger kann er die Rolle jedes der Beteiligten einschätzen, seine eigene eingeschlossen.
Bei dem Auftritt der Zeugen fehlt eine wichtige Person: Juan. Damit diese Vernehmung stattfinden kann, wird man die Sommerferien abwarten müssen. Die Regeln des Internats sind sehr streng, was Heimfahrten der Schüler während des Schuljahres angeht, und sie ermöglichen dem zweiten Lax-Sohn in dem Fall, straffrei auszugehen. Rodolfo findet, dass man diese Sache nicht am Telefon besprechen kann. Zum nächsten Sonntagsfest im Internat, an dem er selbst nicht teilzunehmen gedenkt, wird er Maria del Roser mit dem Auftrag schicken, den Sohn zu befragen. Aber er kann schon im Voraus absehen, dass sie kein Ergebnis erzielen wird.
Als der Zeuge schließlich auf dem Besuchersessel sitzt – der für ihn zu groß ist –, liegt der Vorfall bereits zu lang zurück und ist für kaum jemanden mehr von Bedeutung.
»Ich habe nichts angestellt«, sind Juans Worte.
»Das Gedicht, das du bei dem Fest vorgetragen hast … Ist das von dir?«
»Ja …«, flüstert er mit dünner Stimme.
»Sieh mich an, Juan. Ich stelle dir jetzt eine wichtige Frage. Gibst du mir dein Ehrenwort?«, fragt der Vater und erwidert forschend den Blick seines Sohns, der für alle Regeln einer so förmlichen Vernehmung zu jung ist.
Noch ein Flüstern.
»Ja …«
»Und du versprichst mir, dass du dich an keinem Aufstand gegen deinen Bruder beteiligt hast?«
»Nein … Ja … Ich habe nicht … Also … Wie war noch einmal die Frage?«
»Zum Teufel nochmal, hast du nun mitgemacht oder nicht?«
»Nein.«
Die Antwort klingt verdächtig lakonisch.
Als Rodolfo Juan als hoffnungslosen Fall aufgibt und ihm erlaubt, das Kabinett zu verlassen, hat Concha alle Mühe, den Zeugen zu beruhigen, der noch eine geraume Zeit wegen der Strenge des Richters und seiner eigenen Lügen zittert. Concha gelingt es, aus seinem Schluchzen einige Worte zu verstehen, die sie beunruhigen.
»Wenn ich sie verrate, werden sie mich schlagen. Das haben sie mir angedroht.«
Concha umarmt ihn. Sie wagt, ihm einen Vorschlag zu machen.
»Warum bittest du deinen Bruder nicht um Verzeihung, und ihr regelt das unter Männern, nur ihr beide?«
Aber Juan schließt die Augen und gibt vor, nichts zu hören.
Während der Sommerferien würdigen die beiden Brüder sich keines Blickes und gehen sich die ganze Zeit aus dem Weg. Juan fürchtet sich davor, Amadeo allein zu treffen. Er hat Angst vor seinen schneidenden Blick, vor seinem vorwurfsvollen Schweigen. Er verbringt die Tage in einer schreckhaften Wachsamkeit, die Concha mit einem Vorschlag zu bekämpfen versucht.
»Komm schon, Juan. Bitte deinen Bruder um Verzeihung. Niemand, wirklich niemand außer uns wird davon erfahren.«
Juan schüttelt den Kopf. Er denkt an die Reaktion seines Vaters, wenn dieser erfährt, dass er ihn angelogen hat.
»Ich habe nichts getan.«
Conchas Versuch zu vermitteln führt nicht weiter. »Kannst du dir vorstellen, wie schlecht es deinem Bruder gegangen ist, als er sich bei den Eltern seiner Schulkameraden entschuldigen musste? Don Rodolfo hat ihn dazu gezwungen, und noch dazu in deren Häusern! Findest du das etwa gerecht?«
»Man darf nicht schlagen«, antwortet Juan, »und er hat sie geschlagen.«
Als letztes Mittel versucht die Kinderfrau, mit der Señora zu sprechen.
»Beide haben einen Fehler gemacht. Es ist nicht gerecht, dass nur einer für den Schaden geradestehen muss.«
Maria del Roser kann nichts ausrichten. Rodolfo hat das Thema satt und möchte den Fall nicht wieder aufnehmen. Maria del Roser versucht, gerecht zu sein, als sie sagt: »Amadeo hat sich niemals irgendwo angepasst. Er erträgt niemanden.«
Vor dem neuen Schuljahr beschließen die Eheleute Lax einvernehmlich, ihren ältesten Sohn durch einen Privatlehrer unterrichten zu lassen. Er soll jeden Tag ins Haus kommen und den Jungen einem strengen Stundenplan unterwerfen.
Diese Lösung stellt alle zufrieden. Juan kommt als Sieger einer merkwürdigen Schlacht ins Internat. Amadeo zieht sich noch mehr als je zuvor in sich selbst zurück. Zwischen den Brüdern reißen die ungesagten Worte einen unüberbrückbaren Abgrund auf. Doña Maria del Roser sieht ihr Gewissen beruhigt. Don Rodolfo vergisst die ganze Angelegenheit. Das Verfahren wird eingestellt.
An dem Morgen, an
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