Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Immer wieder betritt eine von ihnen Maria del Rosers Schlafzimmer. Sie überzeugt sich davon, dass die alte Señora ruhig schläft, dann geht sie vorsichtig wieder hinaus, um sie nicht zu wecken.
Als Concha am Morgen zu ihrer Señora geht, um ihr bei den morgendlichen Abläufen zu helfen, liegt Doña Maria del Roser tot und kalt im Bett, aber mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.
Es scheint, als wüssten wir seit einer Ewigkeit, was an jenem hektischen 24. Dezember 1932 passierte, an dem Amadeo abends wortlos nach Hause kam: Dabei war sein Blick so ernst, dass er alle erschüttert hätte, wenn sich jemand die Zeit genommen hätte, darauf zu achten. Beschäftigen wir uns mit diesem Moment, denn es ist das Stück, das zu dem Puzzle noch fehlt.
Der Hausherr ist eingetroffen. Bei seiner Rückkehr führt er die Pistole nicht mehr bei sich, wohl aber das Buch von Gautier, das er achtlos auf das gelbe Samtpolster eines der Sessel im Salon wirft. Dann zieht er sich in seine Mansarde zurück, streift seine Schuhe ab, lässt sich auf seine Pritsche fallen und blickt verloren zu den Deckenbalken. So findet ihn Teresa vor, als sie hochgeht, um ihm von den Ereignissen im Haus zu berichten. Er hört ihr teilnahmslos zu, sein Gesicht ist starr vor Verachtung. Teresa ist von dem Gesundheitszustand ihrer Schwiegermutter so mitgenommen, dass sie den verstörten Zustand ihres Ehemannes nicht einmal bemerkt. Wenn sie es bemerkt, ist es ihr jedenfalls gleichgültig. Sie hat keine Angst mehr vor ihm. Sie bewundert ihn auch nicht mehr. Sie hat nur noch Mitleid für ihn übrig.
Als seine Frau geht, versenkt sich Amadeo wieder in die Erinnerung an die Worte, die er am Nachmittag vernommen hat. Als gäbe es auf der Welt nichts anderes als die Worte seines Freundes Octavio, und diese werden ihn nie wieder loslassen. Er weiß, dass die Art, wie ihn diese verdammten Worte in dem Moment quälen, nur eine Vorahnung von dem sind, was sie ihm für den Rest seines Lebens, das er noch vor sich hat, antun werden.
Er schließt die Augen. Er hasst. Mit aller Kraft. Er hasst Teresa wegen des Zweifels, den sie vor einigen Monaten in seinem Herzen gesät hat und der für ihn dank der Berichte der Kammerfrau nun bestätigt wurde. Er hasst die Blässe seiner jungen Ehefrau und er hasst ihre Tränen, für die nicht er der Grund ist. Er hasst die Verzweiflung, mit der sie ihn ansieht, seit auch sie Zweifel hegt und sich Fragen stellt. Er hasst die Vorstellung, dass sie lieber woanders wäre, in den Armen eines anderen, weit weg von ihm. Er hasst Octavios Ehrlichkeit, diese zweite Haut, die er ihm niemals hat nehmen können: die aufrichtige Niederlage, mit der er am Nachmittag auf seine Fragen geantwortet hat, seine unbeholfenen und schwachen Argumente, mit denen er sich seinem Feind ergeben hat, der – das hat Amadeo anerkannt – erwiesenermaßen der Stärkere ist. Amadeo hasst die moralische Überlegenheit seines Widersachers sowie die absurde Lächerlichkeit, die, so meint er, ihn zu ihm getrieben hat.
Er führt sich die Szene zum wiederholten Male vor Augen. Er hat die Begegnung mit dem Freund gesucht und ihn dort angetroffen, wo er ihn vermutet hatte: im Kaufhaus El Siglo, in den Verwaltungsräumen im zweiten Stockwerk, in diesen mit Edelhölzern getäfelten Räumen, die einmal das Büro von Don Eduardo waren, es gewissermaßen noch immer sind, denn das Porträt des Firmengründers von El Siglo präsidiert an der Stirnwand und sieht auf diese Weise seinem Sohn bei jeder Bewegung über die Schulter.
Amadeo geht ohne anzuklopfen hinein. Octavio erschrickt, sagt aber nichts. Höchstens ein paar Worte der Begrüßung.
»Willst du dich nicht von mir verabschieden?«, fragt Amadeo kühl.
»Selbstverständlich. Ich wäre niemals abgereist, ohne mich von dir zu verabschieden«, ist Octavios ehrliche Antwort.
»Ich weiß, dass du von Teresa bereits Abschied genommen hast«, erwidert Amadeo und seine Stimme klingt dabei vorwurfsvoll. »Sie ist völlig aufgelöst.«
Amadeo versucht, seine Erregung zu verbergen, indem er seine Hände versteckt, aber seine bebende Unterlippe verrät ihn. Er zittert. Seine Augen, die sein Gegenüber fixieren, glänzen in einem sonderbaren Licht. Octavio versucht, die Bedeutung des Ganzen zu erkennen, aber es gelingt ihm nicht. Als Amadeo den Roman von Gautier auf den Schreibtisch legt, hat er einen Moment lang das Gefühl, dass seine Sinne vernebelt sind. Er begreift nicht, wie das Buch in Amadeos Hände gelangt
Weitere Kostenlose Bücher