Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
sein könnte. Gibt es etwas, was sein Freund weiß und er nicht?
»Sie liebt dich«, schnaubt Amadeo.
Das ist das Letzte, womit Octavio in diesem Moment gerechnet hätte. Er geht an die Hausbar und schenkt großzügig zwei Whisky-Gläser ein. Eines reicht er seinem Gast, das andere leert er selbst in einem Zug.
»Sie liebt dich, du Miststück«, bricht es wieder aus Amadeo hervor, während er sich auf den Stuhl sacken lässt.
»Hat sie dir das gesagt?«
»Das ist gar nicht nötig. Ich weiß es.«
»Ich glaube, du täuschst dich, Amadeo. Wirklich«, erwidert Octavio, von seinen eigenen Worten absolut überzeugt.
Amadeo fällt ihm ins Wort.
»Das ist alles nicht nötig gewesen. Die Täuschung, das Umwerben, der Plan für die heimliche Flucht … Du hättest es mir sagen können, so wie wir immer alles geteilt haben, ich hätte dir die Bahn frei gemacht. Aber diese Erniedrigung ist so überflüssig, und nach all diesen Jahren scheint sie mir wirklich kein guter Lohn.«
Der Amadeo, den Octavio in diesem Moment vor sich hat, ist für Octavio ein Unbekannter. Nur einmal hat er ihn in einem solchen Moment der Schwäche erlebt wie heute: damals, in der Nacht vor vielen Jahren in dem Internat in Sarrià, als Amadeo plante, sich an den Mitschülern zu rächen, die ihm seine Zeichnungen gestohlen hatten. In der Nacht hatte er eine wichtige Erkenntnis: Sein Freund Amadeo ist zu allem fähig. Wenn er sich verraten fühlt, verliert er den Verstand. Octavio ist kurz davor, so einen Moment zum zweiten Mal zu erleben.
Amadeo greift zu seiner Pistole zwischen Bund und Hosenträger und richtet sie gegen die eigene Schläfe.
»Ich bin gekommen, um dir freie Bahn zu geben«, sagt er und legt den Finger auf den Abzug,
Octavio ist entsetzt. Er wirft sich auf ihn, aber Amadeo weicht einen Schritt zurück.
»Um Gottes willen, Amadeo! Lass sofort die Waffe los!«
Octavio packt Amadeos Hand, beide Männer kämpfen. Octavio gelingt es, gegen Amadeos Widerstand die Mündung der Waffe von der Schläfe seines Freundes zu reißen. Sie ringen miteinander. Ein Schuss ertönt. Octavio kann die Pistole an sich reißen, ohne dass jemand verletzt wird. Der Schuss ist in die Wand eingeschlagen, nur eine Handbreit von dem Porträt seines Vaters entfernt. Octavio öffnet die Tür zu seinem Büro. Davor steht ein Dutzend Angestellte, die besorgte Gesichter ziehen. Er beruhigt sie mit einer Geste, auch wenn sein Gesichtsausdruck nicht besonders überzeugend wirkt. Dann tritt er wieder ein, schenkt die Gläser erneut voll, verstaut die Pistole in einer Schublade und versucht, seinen Freund zu besänftigen.
»Amadeo, bitte, so beruhige dich doch«, sagt er, selbst darum bemüht, wieder zu sich zu kommen. »Ich habe niemals geplant, dich zu betrügen, ganz im Gegenteil. Meine Gefühle haben mich betrogen, und ich muss zugeben, dass ich mich wie ein Schuljunge benommen habe. Vielleicht hätte ich das besser nicht getan, aber ich versichere dir, es ist ein harmloses Spiel gewesen, und es ist gescheitert. Teresa hat mich immer abgewiesen. Ich habe aus ihrem Mund niemals irgendeine Ermunterung vernommen. Aber meine Gefühle zu ihr und zu dir sind so tief, dass ich keinen anderen Ausweg sehe, als wegzugehen. Ich bitte dich, verzeih mir. Ich bitte nicht das Gleiche für Teresa, denn sie ist völlig unschuldig.«
Amadeo fühlt sich schwindelig, er ist schlaff wie eine halb gefüllte Strohpuppe. Er hat sich gesetzt und trinkt wortlos. Als sein Glas leer ist, steht er auf, schenkt sich wieder ein und trinkt weiter. Die Erklärung überzeugt ihn nicht, aber er begreift, dass dies alles ist, was er von dem Gespräch erwarten kann, zu dem es niemals hätte kommen dürfen.
Er sagt kein Wort. Er öffnet die Tür und geht mit festen Schritten durch das zweite Stockwerk zu den wuchtigen, geschwungenen Treppen aus Marmor und Stahl. Es ist spät, aber alle Abteilungen des Warenhauses sind noch sehr belebt.
Während er hinuntergeht, blickt Amadeo ein letztes Mal zurück und sieht den Freund in seinem Lehnsessel sitzen: Octavio füllt sein Glas bis zum Rand, während ihn der verstorbene Don Eduardo von dem Bild an der Wand mit unbeteiligter Überlegenheit betrachtet.
Bevor Amadeo auf die Straße tritt, fällt ihm die kleine Spielzeugeisenbahn ins Auge, die in einem der Schaufenster, mit lauter Geschenken beladen, ihre Runden dreht.
Er weiß nicht, dass dieses Bild bereits zur Erinnerung geworden ist. Eine dieser Erinnerungen, die dazu verurteilt ist, ihn für
Weitere Kostenlose Bücher