Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
immer zu begleiten.
Von: Violeta Lax
Gesendet am: 14. April 2010
An: Valérie Rahal
Betreff: Das fehlende Ende
Liebe Mama,
ich glaube, ich habe bei meiner Geschichte versagt. Ich habe es mit gleicher Münze heimgezahlt bekommen und am Ende erhalten, was ich verdiene. Aber urteile selbst.
Margot wurde vor einer Woche in die Intensivstation verlegt, wo nur Familienangehörige sie besuchen dürfen. Ich bin vorgestern früh hingegangen. Kaum hat sie mich gesehen, fragte mich eine sehr junge und sehr fröhliche Krankenschwester, ob ich »dazugehöre«. Ich dachte, man würde mich wohl schief ansehen, wenn ich verkünde: »Ich bin Margots Vergangenheit«, und habe mich auf das Hier und Jetzt beschränkt und nur gesagt: »Ich bin eine Freundin.« »Dann können Sie leider nicht zu ihr«, sagte sie da. Sehr freundlich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihr Lächeln an einem Ort, an dem so viele Leute sterben, etwas aufgesetzt war. Ich wollte schon gehen, als sie noch vorschlug: »Aber wenn Sie möchten, können Sie mit ihrer Tochter sprechen.«
Ihre Tochter? Ich war so perplex, dass ich zuerst gleich wieder gehen wollte. Oder fliehen (mein ach so seltenes Verhaltensmuster!). Aber ich bin dann doch geblieben, weil just in dem Moment die Betreffende mit hängendem Kopf in unsere Richtung über den Korridor kam. Sie hob ihren Blick vom Fußboden und sah mich neugierig an. Ich hielt sie für etwas über zwanzig. Sie ist blond und sehr groß. Mein erster Gedanke war, dass sie Margot überhaupt nicht ähnlich sieht. Die Krankenschwester improvisierte dann irgendwie eine hastige Vorstellung: »Das ist eine Freundin von Margot. Ich habe ihr schon gesagt, dass sie sie nicht sehen kann. Sie will mit jemandem von der Familie sprechen.« Dann drehte sie sich zu mir und verkündete: »Und das ist Isabel. Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie reden können.« Dann verschwand sie.
Ich war sprachlos. Zu meiner Überraschung kam noch das Gefühl einer gewissen Vertrautheit. Ich hatte die junge Frau schon mal irgendwo gesehen. »Kennen wir uns?«, fragte ich sie. Anscheinend ist sie an diese Frage gewöhnt, jedenfalls sagte sie gleich: »Ich kenne Sie nicht, aber vielleicht kommt Ihnen mein Gesicht bekannt vor, weil Sie mich mal im Fernsehen gesehen haben. Ich bin Schauspielerin.« »Ich glaube nicht, denn ich lebe in den USA«, habe ich geantwortet. Sie zuckte die Achseln. Was für eine idiotische Unterhaltung vor den Pforten des Todes, findest du nicht?
»Kann ich ihr was ausrichten?«, fragte Isabel mich auf einmal.
Sie wirkte erschöpft, vermutlich von den vielen Tagen am Krankenbett. Ich zögerte wieder. Meine Sprachlosigkeit machte sie nervös. Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich.
»Kennen Sie sie persönlich, oder sind Sie ein Fan von ihr?«, fragte sie weiter. Ich nehme an, dass nicht zum ersten Mal ein Fan ihrer Mutter die Grenzen überschritten hat. Und dann fragte sie noch besorgter: »Sie sind doch wohl nicht etwa von der Presse?«
»Nein, nein«, habe ich sie beruhigt. »Wir haben uns nur viele Jahre nicht gesehen.« Und vielleicht um meine Reaktion zu rechtfertigen, fügte ich noch hinzu: »So viele Jahre, dass ich nicht einmal wusste, dass sie eine Tochter hat.«
»Tja«, grinste Isabel, »aber die hat sie. Das sehen Sie ja.«
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
»Einundzwanzig.«
Dann ist sie also Jahrgang 1989. Ich war zwischen 1993 und 1995 mit Margot zusammen, und sie hat mir niemals etwas von einer Tochter erzählt. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, bis sie sagte: »Aber ich bin nicht Margots Tochter, sondern die von ihrer Frau, also von Patricia und einem netten Samenspender. Ein Schwede, hat meine Mutter immer gesagt. Haben Sie das nicht gewusst? Margot hat in vielen Interviews darüber gesprochen.«
Ich musste zugeben, dass ich keine Ahnung davon hatte.
»Ich habe sie im Jahr 2000 kennengelernt, als sie etwas mit meiner Mutter angefangen hat«, erklärte sie noch.
»Ist Margot bei Bewusstsein?«, habe ich gefragt und auf einen unbestimmten Punkt in dem Bereich gezeigt, zu dem mir der Zutritt verwehrt wurde.
»Immer weniger. Manchmal hat sie klare Momente, aber die werden immer seltener.«
»Was ist mit Ihrer Mutter? Könnte ich mit ihr sprechen?«, habe ich sie dann gefragt, vermutlich, weil ich mich nach einem gleichaltrigen Gegenüber sehnte.
Isabel schüttelte theatralisch den Kopf.
»Ich fürchte, Sie müssen mit mir vorlieb nehmen. Patricia ist letztes Jahr gestorben, an der gleichen
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