Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
und das Blau ihrer Augen ist intensiver, als er es in Erinnerung hatte.
Bei ihrem Anblick verspürt Amadeo das Bedürfnis, sie an einen ungestörten Ort mitzunehmen.
Im Salon schwebt ein süßlicher Duft, der dem Moment eine Atmosphäre einer exklusiven Konditorei verleiht.
»Guten Abend, mein Sohn!«, begrüßt ihn Maria del Roser, während Amadeo sie auf die Wange küsst, »die jungen Damen Brusés und ich haben gerade von dir geredet.«
Der Hausherr beugt sich vor, um Tatíns Hand zu küssen. Als er sich vor Teresa zum Handkuss verneigt, reißt das Mädchen seine Augen sehr weit auf, als hätte es ein Trugbild vor sich.
»Tatín ist so freundlich und hat uns zu Teresas Debütantinnenball eingeladen«, erläutert seine Mutter. »Ich nehme an, dass du dich noch an sie erinnerst. Nächsten Monat wird sie achtzehn Jahre alt.«
»Jetzt ist schon der Debütantinnenball?« Amadeo betrachtet Teresa erneut. »Wie schnell vergeht doch die Zeit! Mit scheint, es sei erst gestern gewesen, dass ich Sie in dem kniefreien Kleid porträtiert habe. Aber ich muss feststellen, dass die Jahre dem Modell hervorragend bekommen sind.« Teresa wird rot, was Amadeo zu einer weiteren Bemerkung veranlasst: »Es wird mir eine Ehre sein, Sie am Tag, an dem Sie erwachsen werden, zum Tanz aufzufordern. Selbstverständlich nur, wenn Ihre Behüterin mir das zugesteht.«
Amadeo stellt zufrieden fest, welchen Eindruck seine Worte hinterlassen haben. Teresa hat das Gefühl, dass ihr Herz gleich aus ihrer Brust springen wird. Die ältere Schwester erhebt sich. Sie ist bereit zu gehen und davon überzeugt, dass ihr Besuch einen gelungenen Abschluss gefunden hat. Die Federn an ihrem Hut liefern sich einen Wettstreit mit der Höhe und dem Bombast der Fransen der Deckenlampe.
Maria del Roser runzelt nachdenklich die Stirn. Als sie die Abneigung ihres Sohnes gegen gesellschaftliche Ereignisse dermaßen betont hatte, hatte sie ein grundlegendes Detail nicht berücksichtigt: Amadeo war verrückt nach jungen Mädchen.
Der Maler verneigt sich, murmelt eine Entschuldigung und verschwindet auf der Treppe nach oben.
Das Trugbild verschwindet mit ihm.
Von: Violeta Lax
Gesendet am: 20. März 2010
An: Valérie Rahal
Betreff: Zwei Fotos
Liebe Mama,
du hast ja so recht.
Auf die Ferne bin ich eine bessere Tochter. Diese Sintflut an Mails ist der beste Beweis dafür.
Bitte, tu mir den Gefallen und mach dir keine allzu großen Sorgen. Es geht mir gut. Der »prahlerische« (bitte, das ist deine Wortwahl!) Tonfall meiner Mails liegt daran, dass ich erwachsen und großspurig werde. Nimm mich einfach nicht so ernst, einverstanden? Ich bin halt eine Nervensäge, das sagt Daniel ja auch.
Und das Geheimnis um mein früheres Gefühlsleben hier in Barcelona ist nun auch nicht so großartig. Ich werde es dir noch erklären, ehrlich, sobald ich einen eigenen Rechner und etwas Zeit habe.
Ich schreibe dir, weil ich das Foto gefunden habe, von dem Papa mir kürzlich erzählt hat. Und nicht nur das. Seit ewigen Zeiten bewahre ich in der Abstellkammer neben anderen Dingen einen Karton mit Papieren und Büchern auf, von denen ich nicht wollte, dass die Mieter der Wohnung sie in die Hände bekommen. Ich erspare dir die Beschreibung der Schmutzschichten, durch die ich mich vorarbeiten musste, um sie zu finden. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Gefühle mich packten, als ich den Karton öffnete. Ich habe Stunden damit zugebracht, alles zu bewundern. Vor allem die beiden Fotos sind einfach beeindruckend. Sobald ich kann, schicke ich sie dir als Anhang, damit du sie auch zur Hand hast.
Mama, wie lief die Geschichte von Amadeo und Teresa wirklich ab? Hat eigentlich irgendjemand in der Familie einmal versucht, etwas darüber herauszufinden? Gehen wir davon aus, dass Amadeo Teresa kennenlernte, als er sie als Zwölfjährige malte, aber was passierte danach? Wie wurden sie miteinander vertraut? Wie war ihre Hochzeit? Wie haben sie zusammengelebt? Worauf gründete ihre Beziehung?
Diese beiden Fotos sind die einzige Antwort, die wir haben.
Das erste Foto stammt aus der Biographie, an deren Existenz Papa mich neulich Abend erinnerte. Es wurde in dem Band über Amadeo Lax der Reihe Gent Nostra veröffentlicht, und zwar auf Seite 12. Die Bildunterschrift besagt: Amadeo Lax und seine Ehefrau in der einzigen erhaltenen Studioaufnahme.
Es ist ein Hochzeitsfoto in Grautönen. Teresa sitzt auf einem Schemel. Großvater steht hinter ihr. Seine Hand liegt auf ihrer Schulter. Es ist eine
Weitere Kostenlose Bücher