Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
sie sehr ungezwungen, sie lachte gern, und wenn sie sich unbeobachtet wähnte, trällerte sie in der Küche vor sich hin.
Caracoles, caracoles,
Ay mi negro no te atontoles …
(Wirre, wirre, wirre,
Liebster, mach dich nicht kirre.)
Doch für alle war die Frage weitaus rätselhafter, wie es Julián gelungen war – diesem wortkargen Hagestolz –, Vicenta zu erobern. Alle hatten ihn eher für einen Trottel gehalten, weil er so phlegmatisch und träge war. Man hörte ihn kaum und erlebte ihn nur selten wach, wenn er nicht gerade arbeitete. Es ist ja altbekannt: Die Begierde, die Liebe oder die Hoffnung, ein Weib für sich zu haben, wenn die Jugend schon geraume Zeit hinter einem liegt, stellen einen gewaltigen Anreiz dar. Allerdings spielte der Charakter des Anwärters eine entscheidende Rolle: Vicenta benötigte lange Jahre der Koketterie und mehrere Durchläufe ihres gesamten Couplet-Repertoires, bis Julián sich schließlich entschied. Zwar wurde er damit keineswegs gesprächiger, aber dank dem weiblichen Zauber wirkte er nach seinem fünfzigsten Geburtstag nicht mehr ganz so düster. Vicenta ließ auch danach nicht von ihren Liedern ab, sehr wohl aber von ihrer Diskretion. Julián saß am Küchentisch und applaudierte seiner geliebten Köchin, während Vicenta hin und her schwirrte und dabei eindeutige Strophen zum Besten gab.
La pulga maldita que a mí me devora
hace que la busco lo menos dos horas.
No saben ustedes lo que mortifica
Pues todo mi cuerpo me pica y me pica …
(Mich juckt und sticht der verdammte Floh,
das geht nun mindestens zwei Stunden so.
Meine Güte, was für eine Qual,
ich bin richtig kribblig, wie ein Aal.)
Manchmal gesellte sich der inzwischen achtzigjährige Felipe zu ihnen, dessen Laune erheblich gestiegen war, seitdem er wusste, dass sein Sohn keine Jungfrau mehr war.
Vicenta und Julián haben nie geheiratet – was auch nicht nötig war –, also war Laia Montull Serrano ein uneheliches Kind, was seinerzeit bedeutete, gar nichts zu sein. Sie kam am Samstag, dem 23. Oktober 1920, auf die Welt, einem milden Herbsttag mit sanfter Brise und ruhigem Meer, der bewölkt begann und sternenklar endete.
Gleich nach ihrer Geburt schenkte die Señora Maria del Roser auch ihr ein Goldamulett mit der Jungfrau von Montserrat, um sie in der Familie Lax willkommen zu heißen. Da es keinen anderen Nachwuchs im Haus gab, verbrachte Laia ihre Kindheit mit einsamen Spielen unter den nachsichtigen Augen der Erwachsenen. Sie erbte einige luxuriöse Spielsachen, die allesamt gebraucht und teilweise kaputt waren und niemanden mehr begeistern konnten, und es gab kein Weihnachtsfest, an dem Doña Maria del Roser nicht an Laia dachte und für sie einen Plüschbären oder eine Stoffpuppe kaufte, für die sie sich am nächsten Tag an der Hand ihrer Mutter mit einem Knicks und einem Kuss auf die Wange bedankte.
Nur diese förmlichen Verpflichtungen, die alljährlich Wiederholung fanden, boten dem Mädchen Gelegenheit, die oberen Stockwerke zu betreten. Dann riss Laia die Augen weit auf und war von den Dingen geblendet, die sie auf ihrem Weg durch das Haus zu sehen bekam. Und wenn sie in ihr Zimmerchen im Untergeschoss mit dem Miniaturfenster zurückkehrte, durch das sie nur die Füße der Passanten erblicken konnte, träumte sie von einem Leben in den oberen Etagen.
In den ersten Jahren schlief Laia im Zimmer ihrer Mutter. Später erhielt sie ein freies Bett in Rosalías Zimmer, und als diese den Haushalt verließ, war das Mädchen Herrin und Gebieterin über ein Zimmer mit zwei Betten und einem Kleiderschrank. Zu anderen Zeiten hätte diese Situation nur so lange angehalten, bis ein neues Dienstmädchen die Stelle einnahm, aber seit dem Kriegsende hatten sich die Dinge gewandelt, und die ganze Stadt schien nicht mehr bei Laune zu sein. Der neue Señor Lax, Don Amadeo, hielt so viel Personal für unnötig. Die arme Violeta war längst gestorben, Juan würde nicht ins Elternhaus zurückkehren, er selbst benutzte nur die Mansarde und das Kabinett, und das einzige Familienmitglied, das mehr oder weniger die gleichen Räumlichkeiten bewohnte wie eh und je – wenn auch immer geistesabwesender –, war Doña Maria del Roser, die inzwischen mit Concha unzertrennlich geworden war. Im zweiten und dritten Stockwerk überwogen nun die geschlossenen Räume. Es gab überreichlich Platz.
Tagsüber verbrachte Laia glückliche Stunden. Anstatt dem Treiben der geschäftigen Gemeinschaft beizuwohnen, die die
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