Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Ufer. Sie sind großartig, solange man nicht beabsichtigt, ihre Fahrpläne zu verstehen.
Meine Gastgeberinnen führen das einzige Hotel in Nesso, ein einfaches Gasthaus mit zehn Zimmern, das buchstäblich über dem Wasser liegt. Sie haben einen eigenen Bootssteg, und das Haus wird von einer römischen Brücke gestützt. Es heißt Villa Eulalia, aber es ist keiner von diesen Luxuspalästen, die es hier zuhauf gibt, sondern ein relativ diskretes Anwesen, das von reichen Leuten erbaut wurde, die nicht auffallen wollten. Man muss wirklich zugeben, wenn die Bauherren die Absicht hatten, sich der Welt zu entziehen, dann ist dieser Ort die perfekte Wahl.
Silvana ist Mutter von sechsjährigen Zwillingen, sie besitzt das Hotel, und ihr Mann Aldo ist hier der Dorfarzt. Außerdem haben sie in der Gegend noch ein paar kleine Geschäfte. Sie vermieten Boote, organisieren Ausflüge und andere Dinge, aber alles hier vor Ort. In den Wintermonaten, in denen es kaum Gäste gibt, genießen sie die lange Ruhepause. Morgens bringen sie ihre Kinder zur Schule nach Como – das ist der einzige Ort in der Gegend, der mit seinem Straßenverkehr, den Einkaufszentren und der Hektik überhaupt die Bezeichnung Stadt verdient –, manchmal nutzen sie die Fahrt auch für ihre Einkäufe oder um essen zu gehen, und abends fahren sie mit den Zwillingen wieder heim. Oder nur einer von ihnen ist unterwegs, während der andere zu Hause bleibt und mit Blick aufs Wasser das Abendessen zubereitet. Alles in allem, das Leben hier in der Villa Eulalia ist so idyllisch, dass ich vor Neid platzen könnte.
Als mein Zug ankam, erwartete Silvana mich bereits am Bahnhof. Sie ist einfach hinreißend. Den Eindruck hatte ich schon am Vorabend, als ich meine Ankunft ankündigte und sie mir sofort anbot, mich in Mailand abzuholen. Natürlich habe ich abgelehnt, und das war auch richtig so: Denn allein die Bahnstrecke am Ufer entlang ist eine Reise wert.
Silvana ist ein Jahr jünger als ich, aber sie sieht eher wie fünfunddreißig oder noch jünger aus. Wahrscheinlich liegt es an ihrer lässigen Kleidung, oder einfach auch an ihrer stetigen Gelassenheit. Wir fuhren mit dem Auto auf die Fähre. Von Bellagio aus ging es über die Landstraße nach Nesso. Allein die Ortsnamen hier haben doch schon einen wundervollen Klang, oder?
»Du hast Glück, das Wetter ist gut. Zu dieser Jahreszeit haben wir viele graue Tage«, meinte Silvana. Schon auf der Fähre haben wir über den Zufall gesprochen, dass wir beide Mütter von Zwillingen sind. Ich habe ihr Fotos von Iago und Rachel gezeigt, und sie hatte welche von ihren Jungs dabei. Wir beide fanden, dass die vier nette Kinder sind.
Mir fiel auf, dass bei ihrem Spanisch praktisch kein italienischer Akzent anklingt, und ich sprach sie darauf an. Da meinte sie nur: »Natürlich, Spanisch ist ja auch meine Muttersprache. Ich habe mit meiner Mutter und vor allem mit meiner Großmutter nie etwas anderes gesprochen.«
Silvana vermittelte mir vom ersten Moment an das Gefühl, dass Aldo der einzige Mann in ihrem Leben ist. Oder zumindest der einzige, über den sie mit einer Fremden spricht. Unterwegs hat sie mir erzählt, wie sie ihn kennengelernt hat, als er zum Wasserskifahren an den Comer See kam. Aldo hatte gerade eine unschöne Trennung hinter sich, und seine Freunde wollten ihn auf andere Gedanken bringen. Dabei konnten sie natürlich nicht ahnen, wie schnell er sich trösten lassen würde und wie entscheidend dieser Sommer für sein Leben sein sollte. Schon im nächsten Jahr ließ er sich mit dem fertigen Examen in der Tasche in Nesso nieder.
»Alle seine Freunde fragen sich, wieso er die Stadt nicht vermisst. Aber wenn man wirklich eine Antwort darauf wissen will, muss man hier etwas mehr Zeit als nur die Sommerferien verbringen.«
Im Haus angekommen, wehte uns aus der Küche ein köstlicher Duft entgegen.
»Meine Mutter ist unsere Köchin, und sie weigert sich aufzuhören. Du wirst sehen, warum auch ich nicht darauf bestehe«, scherzte Silvana.
Die Fliesen in der Vorhalle haben geometrische Muster. Es gibt einen Wandspiegel, einen Teppich und eine Empfangstheke. Ich hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen.
»Geh schon voraus, Mama ist bestimmt in der Küche«, sagte Silvana und öffnete rechter Hand eine Tür.
Der Speisesaal ist klein, dort stehen nur sechs Tische, aber er ist sehr gemütlich. Die Fenster zeigen zum See und zum Bootssteg hinaus. Über dem Kamin hängt ein Frauenporträt. Ich hätte es mir ja genauer
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