Die Geister von Rosehill: Roman (German Edition)
Sommer über hier , ermahnte ich mich. Wenn die Ausgrabungssaison vorbei sein und das Feldteam sich für die Wintermonate, in denen die Arbeit im Freien unmöglich war, auflösen würde, mußte ich nach Hause zurückkehren. Und dann? Nun, es gab ja immer noch Doktor Lazenbys neue Ausgrabung in Alexandria. Ich konnte ihm nicht ewig ausweichen, früher oder später würde er mich aufspüren, und ich würde dem guten Mann eine Antwort geben müssen. Alexandria. Ich seufzte. Aber schließlich hatte ich meine feste Stellung im Britischen Museum aufgegeben, weil ich Abwechslung wollte, neue Abenteuer, neue …
»… etwas frische Luft schnappen«, unterbrach Nancy Fortune meine Gedanken.
Ich sah auf. »Wie bitte?«
Sie lächelte über meine Unaufmerksamkeit. »Das ist der beste Beweis. Ich sagte gerade, daß wir schon zu lange hier drin eingesperrt sind, vier Stunden ohne Pause sind bei dieser Arbeit einfach zuviel. Hätten Sie Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Als wir nach draußen in die Sonne traten, hieß ich den frischen Wind, an den ich mich mittlerweile gewöhnt hatte, beinahe willkommen. Jetzt im Hochsommer waren die Straßen regelrecht überlaufen, und im Hafen hinter uns wimmelte es vor Aktivität, da man dort schon vollauf mit den Vorbereitungen für das Fest der Heringskönigin beschäftigt war. Deshalb schlugen wir die andere Richtung ein, durchquerten die Ortsmitte und kamen schließlich an der Bantry heraus – der glatt geteerten Promenade, die vom Hafen direkt zum Strand führte.
Auch hier waren Menschen, jedoch nicht in Massen, und das Geräusch ihrer Stimmen wurde vom Getöse der Brandung übertönt. Die Flut kam mit hohen Wellen herangerollt, die sich donnernd an der Hafenmauer brachen. Das Schauspiel stellte offenbar eine zu große Versuchung für ein kleines Mädchen dar, das am Ende der Kaimauer spielte. Lachend sprang sie immer wieder durch die überspülte Stelle zwischen Mauer und Hafenpromenade und forderte die Wellen heraus, wobei sie gründlich durchnäßt wurde.
Unter uns erstreckte sich der Strand, der mit jeder Minute schmaler wurde, in einem sichelförmigen Bogen bis zu den blutroten Klippen. Dort thronte hoch über der Bucht die Ruine der Festung von Eyemouth – Davids Lieblingsplatz in seiner Kindheit.
Ich stieß einen glücklichen kleinen Seufzer aus und stützte meine Arme auf die glatte Mauer, die sich in Taillenhöhe die Promenade entlangzog. »Was für ein schöner Tag«, sagte ich.
Davids Mutter lächelte. »Das klingt, als seien Sie nicht besonders scharf darauf, zurückzugehen.«
Einen Augenblick lang dachte ich, sie meine London damit und habe meine Gedanken gelesen, aber dann wurde mir klar, daß sie nur von Rosehill und meiner Arbeit dort sprach.
»Peter hat gesagt, ich solle mir den Tag frei nehmen«, antwortete ich. »Er findet, ich sehe in letzter Zeit so müde aus.«
»Kein Wunder, wenn er Sie nächtelang mit seinen Theorien wachhält.«
Mein Gewissen und meine Sympathie für Peter brachten mich dazu, ihn zu verteidigen. »Es war aber wirklich eine interessante Theorie. Möchten Sie sie hören?«
»Wenn Sie glauben, daß mein Herz sie verkraften kann«, spottete sie und lehnte sich neben mich an die Mauer.
»Ich denke schon. Also, wie Sie wissen, haben wir dieses goldene Medaillon mit dem Bild Fortunas darauf gefunden.«
»Ja, Robbie hat mir davon erzählt.«
»Gut, aber selbst Robbie kennt nicht die ganze Geschichte«, sagte ich und berichtete ihr alles von Anfang an, bis ich bei Peters Theorie angelangt war: »Und als ich von Rose Cottage zurück war und ihm alles erzählt hatte, versank Peter tief in seine Gedankenwelt, wie Sie es vorhin ausgedrückt haben.« Ich grinste. »Er dachte sich durch eine ganze Flasche Wodka hindurch.«
»Das ist nichts Ungewöhnliches bei ihm. Aber ich wette, daß ein paar geniale Ideen dabei herauskamen.«
»Nun, er glaubt, der Grund, weshalb wir noch keine Überreste von Leichen gefunden haben, liegt darin, daß die Männer verbrannt wurden. Dazu paßt auch, daß Rosehill ursprünglich ›Rogue’s Hill‹ hieß, was von dem lateinischen Wort rogus für ›Scheiterhaufen‹ herrühren könnte.«
»Und das paßt wiederum zu Robbies Aussage, daß der Wächter seinen Freund ins Feuer gelegt hat«, stimmte sie zu. »Aber es müßten doch Tausende von Männern gewesen sein.«
»Ja, schon, aber … Vielleicht sollte ich noch einmal von vorne beginnen, so wie Peter es getan hat. Wir vermuten, daß die Neunte auf ihrem
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