Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Pastorensohn, nicht mehr in einer Kirche gewesen. Auf alle Fälle vor jenem Unglück kaum, und danach gar nicht mehr. Das weiß er genau. Selbst zu den kirchlichen Feiertagen, Weihnachten, Ostern usw., ist er in keine Kirche gegangen. Wie er jetzt wieder daran denkt, schlägt ihm das Gewissen. Es ist seine Schuld gewesen, dieser Tod. Er sieht den Zehnjährigen vor sich, Hans, den Erstgeborenen. Bleich, mit fieberndem Kopf, nasser Stirn, weinend, jammernd vor Schmerzen lag das Kind. Der Arzt hatte sie eine Stunde vorher noch beruhigt. Er wird sich den Magen verdorben haben. Ach, Kirschen hat er gegessen? Na dann. Das geht vorüber. Einen feuchtwarmen Wickel empfehle er und lauwarmen Abführtee. Doch es wurde nicht besser, es wurde schlimmer. Auf einmal, der Cousin Felix war herübergekommen, fiel das Wort „Blinddarmentzündung“. Wo jetzt einen Chirurgen hernehmen? In der kleinen Familie war Aufregung und Ratlosigkeit. In der Nachbarschaft gab es ein Automobil. Gott sei Dank. Das Kind musste schnell ins Krankenhaus. Zur Albert-Ludwig Universität, in die Hugstetter Straße. Die hatten eine Chirurgie, sie war bekannt und berühmt. Man fuhr ihn hin. Über eine halbe Stunde Fahrtzeit. Unterwegs schrie der Junge vor Schmerzen, denn die Straßen waren alles andere als glatt und eben. Dann, ein Assistenzarzt wollte die Verantwortung nicht auf sich nehmen, der Chirurg musste von zu Hause, vom Mittagstisch weggeholt werden.
Der Junge wurde aufgeschnitten. Aber es war ein hoffnungsloser Fall. Der ganze Bauchraum voll Eiter, der Darm an zwei Stellen perforiert. Zwar gab man Morphium gegen die Schmerzen, aber gegen die Blutvergiftung, die bereits eingesetzt hatte, gab es kein Mittel. Binnen zwei Stunden war Hans, sein Liebling, tot. Er sieht sich bei dem toten Kind stehen, es hätte nicht viel gefehlt und er wäre neben der Bahre zusammengebrochen. Bis heute zittert er, wenn er an diese Sache denkt. Niemals wird er darüber hinwegkommen. Warum sind sie nicht gleich, schon am Vortag, als die Beschwerden begannen, auf den Blinddarm gekommen? Warum hatte der alte Doktor Weißenberg eine falsche Diagnose gestellt? Vielleicht, weil sie selber, und er, Fehsenfeld zuallererst, die Geschichte vom verdorbenen Magen hatten glauben wollen. Sie war so einfach und einleuchtend. Wie oft verdirbt sich ein Kind den Magen, zumal im Sommer, wenn es viel Obst naschen kann …
Das Wasser kocht, der Kessel pfeift. Er muss den Kaffee aufbrühen. Schnell verbreitet sich der Kaffeeduft im Raum. Fehsenfeld nimmt die heiße Kanne und eine Tasse, geht hinüber in seine Stube. Zuerst muss er die Papiere ein wenig zur Seite schieben und ein Deckchen auflegen, damit keine Flecken auf die Briefe und Schriften kommen. Wieder denkt er an seine Frau Paula. Lächelt. Die wäre jetzt zufrieden mit ihm. Dann setzt er sich in den breiten Lehnstuhl, gießt sich die erste Tasse ein. Sofort breitet sich Behagen aus. Der Verleger Fehsenfeld streckt die langen Beine aus, spitzt den Mund, zwirbelt mit der linken Hand den rötlichen Oberlippenbart nach oben. Der Kaffee duftet köstlich, aber er ist heiß. Man kann sich leicht Lippen und Zunge verbrennen.
Da, auf einmal, hört er ein Winseln und Kratzen draußen an der Haustür.
Ah Sirta! Fehsenfeld lächelt. Seine Hündin ist heimgekommen. Er muss aufstehen und das Tier einlassen. Die Hündin begrüßt ihren Herrn stürmisch, als hätte sie ihn eine Woche nicht gesehen, wedelt mit dem Schwanz, läuft, denn sie weiß wohin, in die Wohnstube und legt sich unter den runden Tisch, gleich neben eines der gedrechselten Tischbeine.
Jetzt wird aber gearbeitet, sagt sich der Verleger entschlossen. Keine Störungen mehr.
Er setzt sich wieder, trinkt einen Schluck Kaffee und sucht unter den Briefen den jüngsten seines Autors May heraus. Er findet ihn schnell, er hat gleich obenauf gelegen.
Er faltet die Papierbögen auseinander, liest die eng beschriebenen Seiten.
… da müssen wir freilich fliegen lernen, und das ist es eben, was wir wollen und was wir werden! Es soll Alles eine höhere Bewegung und ein höheres Aussehen bekommen, der May, die Bücher und auch der Herr Verleger, besonders der letztere, und zwar vor allen Dingen bildlich … 2 – „Höheres Aussehen!“ – „Höhere Bewegung!“ Pah. Unfug! Fehsenfeld senkt den Briefbogen, kratzt sich den Bart und seufzt: Ach, mein alter May will ums Verrecken nicht begreifen, dass die Arbeitsteilung zwischen Verleger und Autor schon vor langer Zeit stattgefunden
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