Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Tatsachen und Zahlen auf, blinkten Lichter der Erkenntnis, drang er in Tiefen des Menschenlebens ein, an die er vorher niemals gedacht hatte. Alles schien sich zu beleben, wurde hinter seiner Stirn zu einer eigenen Welt. Und er entdeckte dabei eine Eigenschaft an sich, die ihm womöglich von seiner Großmutter vererbt worden war, die Fähigkeit nämlich, seinen Gedanken plastische Gestalt zu geben, Geschichten zu erfinden, Personen zu schaffen, die dem Leben zu entstammen schienen. Sacht keimte der Wunsch, diese Fähigkeit draußen im Leben zu seinem neuen Beruf zu machen, oh, er würde schreiben, alles aufschreiben, was ihm durch den Sinn geht, denn seine Fantasie kann ihm keiner nehmen, sie ist nicht strafbar, sie gefährdet niemanden, dahinein könnte er sich zurückziehen – jederzeit. Immer! Ein ganzes Universum, die Welt habe hinter seiner Stirne Platz, dachte er. Und nachdem er dies entdeckt hatte, atmete er befreit auf: Oh ja, dies wäre das Neue, was er will. Schriftsteller will er werden. Nichts anderes, nur Schriftsteller. Darüber also, über diese seine Pläne, die ihn Tag und Nacht verfolgen und die von Stunde zu Stunde immer stärker werden, darüber will er mit seinem neuen Freund, dem Dittrich, reden. Mit den anderen ist das unmöglich, die haben nur ihre kleinen Knastbetrügereien, die Weiber und wie sie was zu saufen und zu rauchen bekommen, im Kopf. Nein, mit denen kann er nicht reden, auch mit dem Inspektor nicht, noch nicht, denn sein Respekt vor ihm ist allzu groß. Er schämt sich, mit diesem Mann gerade über Schriftstellerei zu reden. Vielleicht werde er ausgelacht, oder der Inspektor dächte, er, May, wolle ihm nach dem Munde reden, weil er ja selber Texte schriebe, wolle ihm schmeicheln und nachäffen, um irgendeines Vorteils willen. Der Dittrich aber, und mit irgendeinem müsse er ja unbedingt reden, dieser ernste, ruhige Max Dittrich ist ihm der Rechte. Und er ist ungeduldig, zu hören, was Max, der Erfahrene, über seine Pläne denkt, ob er ihm zureden oder abraten werde, ja, das will er wissen. Zur ersten Probe des Bläserkorps werde er ihn fragen, beschließt May auf seiner Pritsche sitzend.
Jetzt starrt er vor sich hin. Keine achtundvierzig Stunden trennen ihn von seiner ersten Bläserkorpsprobe. Aber ihm ist, so sehr er sich auch freut, zugleich angst. Auf was hat er sich da eingelassen. Sie werden ihm schnell draufkommen, dass er keine Ahnung hat. Ein Althorn hat er noch niemals in der Hand gehalten. Er spielt ganz gut Klavier, natürlich Orgel, auch ein bisschen Geige. Aber vom „Blech“ versteht er nicht viel. Ein paar Mal Trompete im heimatlichen Kirchenorchester, Schalmei – mehr ist da nicht gewesen. Er wird den Göhler fragen, ob er ein bisschen üben darf.
Allmählich indes schwindet die Angst. Er wird es schon schaffen, sagt er sich am Abend. Schließlich ist ihm das Musikalische vertraut. Die Musik ist ihm beinahe die liebste von allen Künsten. In ihr fühlt er sich wie nichts zu Hause. Zu Hause, wo ist man zu Hause? Und plötzlich, die Gedanken schwingen weiter, denkt er ganz versöhnlich und liebevoll an seinen jetzigen Aufenthalt. Ja, hier auf Osterstein ist er inzwischen ganz gerne. Er hat sich rasch gefunden, in den Ton und die Art, die hier herrscht, er hat schnell gelernt, wo man demütig sein muss und wo man frech werden kann. Seine Zelle ist, seit er hier neben dem Inspektorenzimmer eingezogen, immer blank gewienert gewesen, seinen Kübeldeckel hat er poliert wie eine Messinghaube, und den grauen Steinboden seiner Zelle hat er ein paar Mal pro Woche mit Grafit und Reinigungsöl geputzt, dass man davon essen könnte. Sein Arbeitspensum schafft er inzwischen und der Dittrich hilft ihm dabei. Seit ein paar Wochen darf er die Gefangenenbibliothek verwalten, eine wohltuende und bildende Arbeit, denn er kann in den Zeiten, wo keiner kommt, das tun, was er nach der Musik am liebsten macht – lesen! Und er will viel lesen, hat noch manches nachzuholen. Nein, er ist ganz zufrieden mit seinem Dasein hier, und jetzt, wo er in seinen neuen Plänen lebt, wo er einen echten Freund zu haben scheint, ist die Zufriedenheit beinahe einer Art von Glücksgefühl gewichen. Und als vorige Woche die Kommission aus der Hauptstadt durch die Anstalt gegangen ist, da konnte er, wie ein Mustergefangener, mit ruhigem Herzen klar und bescheiden antworten: Ich fühle mich auf Osterstein sehr wohl, Herr Geheimrat! Oh ja, ich fühle, es tut mir gut, Herr Oberstaatsanwalt! Nein, ich
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