Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Dora, in ein paar Wochen ist es so weit, da könnten wir wieder angeln gehen. Auf Forellen. Forellen? Oh, wie schön. Die Mädchen freuen sich. Dann ziehen sie Gesichter. Ooch, in ein paar Wochen erst. Oooch. Können wir nicht heute schon …? Nein. Jetzt ist es März, da geht es noch nicht. Fürs Fliegenfischen muss es warm sein. Und wenn man mal ins Wasser muss, huh, wie kalt es jetzt noch ist. Habt nur Geduld. Mir passt es ja auch nicht, aber die Zeit kann man nicht vordrehen. Vielleicht gehen wir stattdessen ein bisschen in die Wiesen, mit Sirta, Stöckchen werfen und so … er bricht ab.
Paula sieht sofort, dass mit ihren Mann etwas nicht stimmt. Und er weiß, dass sie ihm ansieht, was ihn quält. Sie gehen ins Haus, während die Mädchen noch mit dem Hund spielen, den sie sogleich von seiner hässlichen Kette befreit haben. Im Haus umarmt sich das Ehepaar. Was hast du, Ernst? fragt Paula, sie sieht sich um, entdeckt die unordentlich ausgebreiteten Papiere, die allgemeine Liederlichkeit, das Verkommene, sie sieht die Jägerjoppe am Haken, der Ärmel eingerissen, zwei Knöpfe fehlen, die Tiroler Stiefel, schmutzverkrustet, die Dielen tagelang nicht gewachst, voller Ackerkrümel. Sag, was bedrückt dich? fragt sie noch einmal, macht sich aus seinen Armen frei, geht zum Tisch und greift instinktsicher den obersten Papierbogen, den mit den kleinen Buchstaben vollgekritzelten Briefbogen Karl Mays. Ist es wegen
dem
hier? Fehsenfeld nickt wie ein Junge, bei dem die Mutter einen Brief vom Klassenlehrer gefunden hat.
Er
hat geschrieben, antwortet Fehsenfeld. Er stellt wieder einmal alles in Frage. Will neue Titelbilder. Zehn Jahre Arbeit, unser Erfolgsrezept für nichts. Alles Kleinkram vor seinen tollen Ideen. Du kennst ihn ja. Fehsenfeld lässt die Arme sinken, steht da wie ein mutloser Verlierer. Wartet. Sucht verlegen nach Tabak und Pfeife. Paula lässt den Brief sinken, legt ihn wieder auf den Tisch. Ich werde ihn nachher lesen, Ernst, wenn ich hier, sie breitet die Arme aus, ein wenig Ordnung gemacht habe. Ein Dreck ist das! Furchtbar. Wenn man dich nur eine Woche allein lässt, sieht es aus wie im Altmännerwohnheim in Stuttgart. Fehsenfeld geht auf seine Frau zu, umschlingt sie. Ach, wenn ich dich nicht hätte, mein Schatz. Ja, seufzt Paula, es ist immer dasselbe, wenn du nicht mehr weiter weißt, dann muss ich herhalten, aber im Erfolgsfall kennst du mich dann nicht.
Das stimmt nicht, Paula! Das ist nicht wahr!
Die Frau schweigt, lächelt. Na, nun geh schon ein bisschen auf die Wiesen hinunter, nimm die Mädchen mit und Sirta, na nun geh schon …
Doch zur großen Überraschung seiner Frau sagt Fehsenfeld ganz plötzlich: Nein! Nein, ich geh nicht! Heute nicht, Paula. Ach, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, ich glaub, ich werde verrückt, vor einer Stunde, ja vorhin noch, da wollte ich noch gehen, irgendetwas mit den Kindern unternehmen, ganz sicher wollte ich das, ach … er bricht ab, fängt nach kurzem Schweigen wieder an: Paula, verzeih mir, ich bin, seit dieser Brief gekommen ist, da bin ich ganz durcheinander, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich seh mich am Ende, alles, was wir aufgebaut haben, soll mit einem Schlag zerstört werden, zerschmettert durch eine Wahnsinnsidee, aufgelöst in nichts, von diesem Halbverrückten aus Radebeul, er weiß nicht, was er anrichtet, er denkt, er kann sich alles erlauben, braucht nur mit dem Finger zu schnipsen und schon springt der Verleger, wohin er will, er denkt, weil er in Deutschland der Meistgelesene ist, hat er Narrenfreiheit, alle Ideen, die ihm einfallen, werden wahr, er denkt, er hat Zauberkräfte und jeder Text wird ein Bestseller, selbst der albernste, auch seine „Scheißhimmelsgedanken“, wirklich Paula, das glaube ich, dass Karl May solches denkt, er leidet unter einer Art von Größenwahn, hat ein Wahrnehmungsdefizit, und jetzt mit diesem neuen Maler, den er entdeckt zu haben glaubt, denkt er, man werde ihm auch zu seinen neuen Deckelbildern folgen, seine Leser werden ihm folgen, werden diesen symbolistischen Irrgarten verstehen, aber du wirst sehen, es endet im Fiasko, wir werden alles verlieren, alles, Paula, ich weiß nicht mehr weiter, nicht mehr weiter, am besten, wir wandern aus, wandern aus wie die May’schen Figuren, treffen im Wilden Westen auf unsere Landsleute, fangen wieder mal neu an, oh, ich bin am Ende, Paula, es ist ein Dilemma – geh ich seinen Irrweg nicht mit, verlässt er mich, treib ihn einem anderen in die Arme,
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