Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Augen ein paar Meter rückwärts schreitend die Bildposition bewertete, der andere mit ausgebreiteten Armen die maßstabsgerechte Papierskizze vor diese und vor jene Wand hielt, war dann wieder unsicher geworden, hatte alles wieder und noch einmal verworfen. Schneider vermaß, wie ein Innenarchitekt auf- und abgehend, mit dem Zollstock die Wände und Flächen. Ja, sogar ein kleiner Streit war entstanden, entzündet an der Frage, wie das Licht einfallen sollte, in welchem Winkel und mit welcher Helligkeit, was wiederum eine Änderung der Gardinen bedeutet hätte. Selbst die Frau des Hauses, Klara, beteiligte sich, hatte Vorschläge gemacht, sich eingemischt. Schließlich, nach dem Kaffee, war man zu einer Entscheidung gekommen. Das Bild sollte für alle Besucher sofort sichtbar im Empfangssalon im Erdgeschoss, in seiner Größe von zwei Meter siebenunddreißig mal zwei Meter und zehn Zentimeter beinahe die ganze Querwand einnehmend, aufgehängt werden. Es sollte alle Blicke sofort beherrschen, es soll Schrecken machen, wie Karl May gesagt hatte, man soll es erschauen und erstarren wie vor dem Medusenhaupt, jedes Wort werde bei seinem Anblick ersterben, sodass die Gäste, Männer wie Frauen, junge und alte, willkommene wie unwillkommene, Freund wie Feind in staunendes Schweigen fallen. Es sei, hatte May gesagt, als habe man plötzlich Gott gesehen, ein heiliger Blitz durchfahre einen jeden, der dieses Bild erblicke …
Heute nun, an diesem Abend Ende März, nach der Begrüßung und nach einer innigen Umarmung, nach ein paar kurzen freundlichen, indes floskelhaften Worten, stehen die beiden, Karl May und sein Künstlerfreund Schneider, wieder vor diesem Bild. Auch sie, wie alle sonst, schweigen ein paar Minuten, stehen, die Hände unterhalb des Bauches ineinander verschränkt haltend, einen Fuß vorgestreckt. Selbst diesen beiden will jetzt kein Wort über die Lippen …
Dann, ein paar Minuten sind vergangen, sagt May zögernd, leise, sogar ein wenig heiser und auf das Schweigen bezugnehmend, nein, nein teurer Freund, es gehe beim besten Willen nicht anders, vor diesem Werk versagen einem die Worte, man stehe überwältigt, beeindruckt, furchtsam und verstört. Und doch. Ihm keime bei jedem Blick auf das Bild der Gedanke, dass nunmehr sein schriftstellerisches Werk, sein neues, umfassendes Märchenwerk Bild geworden sei, ja, man könne sich durch dieses Meisterwerk im wahrsten Wortsinn ein Bild machen von Karl May, seinem Wollen und seinem Streben … ohne ein Wort, ohne eine einzige Erklärung, signalisierten die Augen dem Hirn, hier blicke man auf eine ganze Weltsicht, auf ein Universum, hier sehe man auf das, was seines Schreibens Urgrund sei – die Menschenseele!
Ja, teuerster Freund, fährt May fort, und in seinen Augen glitzert Feuchte, Sie haben das, was bisher niemand vermocht, Sie haben die Menschenseele sichtbar werden lassen … Sie sind einer der größten lebenden Maler unseres neuen aufgehenden Jahrhunderts.
Sascha Schneider steht da, beinahe wie ein Gymnasiast, mit seiner runden Brille und in einem Anzug, der ein wenig eng scheint, die Röte ist ihm ins Gesicht gestiegen und er weiß nicht, was er entgegnen soll, betreten blickt er zu Boden. Gewiss, er hat das versucht, was May hier ausspricht. Ja, er hat versucht, das Unfassbare fasslich zu machen, und er ist dazu angeregt worden, nachdem er den „Silberlöwen“ gelesen hatte, jenes Werk des väterlichen Freundes, das er am meisten liebt, und er weiß, er steht damit einzig da in der deutschen Malerszene, noch keiner vor ihm ist ein solches Wagnis eingegangen, noch keiner hat dem Symbolismus, dem Mystizismus, dem Esoterischen derart Gestalt zu geben vermocht. Doch er mag kein Lob, Lob hat ihn immer verlegen gemacht, es lähmt ihn, vor so viel Schmeichelei, vor solchem Pathos muss er stumm bleiben. Auch spürt er gleich, noch mehr Lob erträgt er nicht. Bei der nächsten Eloge muss er etwas sagen, da muss er sich schütteln, etwas dagegen sagen, muss es abschütteln wie goldenen Flitter, den man über ihn geschüttet. Mit Kritik kann er besser leben, da weiß er sich zu richten wie ein Bäumchen, das man ins Dunkle gestellt hat, und das sich nun nach dem Lichte wendet, Widerspruch ist seiner Natur entsprechend, Kritisches hält er aus, es regt ihn an, dagegenzuhalten, sich zu reiben, Lob aber lässt ihn erstarren, es ist für ihn wie süßes Gift. Und so hält er jetzt die Lippen zusammengepresst, sein Gesicht rötet sich noch mehr und im Innersten
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