Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
wüsste nicht, worüber ich klagen sollte, Herr Direktor! Wir sind hier wie eine große Familie, Herr Präsident! Gut, da war das kleine Vorkommnis mit dem Wächter Kiepernbusch noch nicht passiert. Aber das ist ja bei Lichte besehen eine Lappalie. Man muss daran gar nicht denken. Freilich, und May grient in sich hinein, freilich sticht ihn manchmal der Hafer. Und nicht jetzt erst, beim Hofgang. Einmal, das war im späten Frühjahr, da ist ein Prälat mit zwei Ordensschwestern gekommen und hat mit jedem Gefangenen über seine Tat sprechen wollen. Und als sie ihn im Besucherraum dann in ihrem Eifer mit erglühten Wangen nach seiner Straftat fragten, da hat er statt der Wahrheit geantwortet: Blutschande, ehrwürdige Schwester! Hab meiner Mutter und dann auch meiner Schwester beigelegen: Eine große Sünde, ich weiß, und ich bereue sie auch von ganzem Herzen! Er denkt belustigt an das grinsende Gesicht des Inspektors, der dabeigestanden hat und sein wirkliches Strafregister kennt, denkt an die Verlegenheit des Prälaten und die erschrockenen Mienen der Ordensschwestern. Der Inspektor hat ihm hinterher eine Kopfnuss gegeben:
Das machen Sie nicht noch mal, May!
Übermorgen ist also die Bläserprobe! Und ihm erscheint dieser Tag, trotz aller Ängste, wie ein Feiertag. Er freut sich drauf. Es wird schon gut werden, denkt er und setzt sich an den kleinen blank gescheuerten Holztisch, den ihm die Gefängnisverwaltung für seine schriftlichen Arbeiten bewilligt hat. Doch seine Gedanken, die sich eigentlich mit einer Zuarbeit für den Inspektor beschäftigen sollen, kehren sofort zum Bläserkorps zurück. Er muss sich vorbereiten, wenn er zur Probe einen kompetenten musikverständigen Eindruck machen will, als einer, der nicht nur die meisten Blasinstrumente kennt, sondern, wie er dem Göhler vorgeprahlt hat, auch Komposition und Arrangement beherrscht – also ergreift er sein Lieblings-Nachschlagewerk, den großen „Pierer“, den er mit all seinen 15 Bänden aus der Bibliothek vorsorglich für die Inspektor-Zuarbeiten ausgeliehen hat, sucht nach dem Wort „Blasmusik“. Im Band 1 schon findet er das Gewünschte, legt den Zeigefinger zwischen die Seiten, sucht nach einem Lesezeichen. Ah, hier der kleine Zettel, irgendwo herausgerissen, wird sich eignen, denkt er. Er klemmt ihn zwischen die fraglichen Seiten, legt dann aber den Band erst einmal zur Seite. Konzentriert zieht er die Stirn kraus, lehnt sich auf seinem knarrenden Stühlchen zurück. Aus dem Kopf versucht er zusammenzutragen, was ihm über Blasmusik und über Musiktheorie noch im Gedächtnis haftet. Aber wie er sich auch müht, sein Wissen ist kümmerlich, ohne die Lexika wird er es nicht bewältigen. Wieder einmal ärgert er sich über seinen Übereifer, seine verfluchte Angeberei und die lose Zunge. Denn nun ist es nicht mehr zu ändern: nachdem er beim Göhler scharwenzelte, er könne Musikstücke arrangieren, und dann noch eines draufgesetzt hat, er habe selber schon für größere Kirchengemeinden wie in Chemnitz und Marienberg Kirchenlieder komponiert, da hat ihn Göhler prompt beim Katecheten gemeldet, und nun will ihn dieser unter die Kirchensänger einreihen. May weiß, der Göhler als Evangelischer hat ihn ganz bewusst dem katholischen Katecheten aufgedrängt, der in seinem Chor keine geeigneten katholischen Sänger, und noch viel weniger solche mit musiktheoretischen Erfahrungen, aufzuweisen hat. Und er weiß auch, das ist ein versteckter Hieb der evangelischen Beamten gegen den katholischen Katecheten, der es in der überwiegend evangelischen Anstalt sowieso schon schwer genug hat und den hier nur die bischöfliche „Missio canonica“ hält. Man witzelt über den langen, trockenen Mann mit der überlangen Hakennase, er bleibt ein Fremder unter den anderen Angestellten und Beamten der Anstalt, ein Ausgestoßener und Belächelter, aber May mag den Katecheten, er sieht in ihm seinen alten Kantor Strauch. Und plötzlich, auf dem Stühlchen in der Zelle sachte wippend, muss May an seine Zeit als Kirchendiener, Kirchensänger und Hilfskantor in Ernstthal denken. Ein Junge von zehn bis zwölf Jahren war er damals. Nur ein paar Pfennige bekam er für den Dienst. Also ging er jeden Mittwoch und Sonntag zum Neumarkt nach der Stadtkirche St. Trinitatis. Er erinnert sich, wie er in der ersten Zeit immer nur hinter der Orgel gestanden hatte und Luft in die Bälge treten musste, im Winter konnte einem dabei in der ungeheizten Kirche nicht kalt werden. Und der
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