Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Autogramme gegeben, war unter den Anwesenden, die viel jünger und fast alle im gleichen Alter, nämlich Anfang der Dreißig, waren, mit seinen Einundsechzig der Senior oder so eine Art respektierter Alterspräsident.
May hob die Hand, eine gelbliche, von Altersflecken gesprenkelte Hand, sein Frackärmel rutschte nach und entblößte einen mageren, beinahe abgezehrten Unterarm, von dem man unmöglich glauben konnte, er besäße die schmetternde Kraft eines Old Shatterhand – doch diese Makel verschwanden ins Nichtige, als dieser alte Mann jetzt mit einem beinahe magischen Blick seiner leuchtenden blauen Augen, dem atlasweißen Schopf und einer Ausstrahlung wie ein entrückter Schamane zu reden begann:
Tragt euer Evangelium hinaus,
Um aller Welt des Himmels Gruß zu bieten,
Doch achtet jedes andre Gotteshaus;
Ein wahrer Christ stört nicht den Völkerfrieden!
Gebt, was ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit,
Das andre alles sei daheim geblieben.
Grad weil sie einst für euch den Tod erlitt,
Lebt sie durch euch, um weiter fortzulieben.
Tragt euer Evangelium hinaus,
Indem ihrs lebt und lehrt an jedem Orte,
Und alle Welt sei euer Gotteshaus,
In welchem ihr erklingt als Gottesworte.
Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Lasst ihren Puls durch alle Länder schlagen.
Dann wird ein Paradies die Erde sein,
Denn ihr habt ihr den Himmel zugetragen.
Liebe Freunde! Ja, so schrieb ich in meinem jüngsten Buch, welchem ich den Titel „Und Friede auf Erden“ gegeben habe. Ihr denkt, jetzt ist er übergeschnappt, der Alte, jetzt zieht er sich zurück in die christliche Mythologie. Weit gefehlt. Wer so denkt, hat Karl May nie gekannt, geschweige denn begriffen. Das Christliche ist immer mein Alpha und mein Omega gewesen. Warum? Es geht darin um die Liebe! Die Liebe ist das Grundprinzip des Christentums. Und so geht es auch mir immer nur um die Liebe, in allen meinen Büchern war die Liebe stets mein höchstes Prinzip. Sie ist mein Dreh- und Angelpunkt. Und wenn ich euch heute Abend hier so höre, meine lieben Freunde, so glaube ich, meine Missionierung hat noch gar nicht begonnen. Nicht einmal bei meinen Freunden hatte ich damit Erfolg. Wir streiten hier über den rechten Weg: wie gehen wir mit Kunst um, ist unserem Freund Sascha Schneider Unrecht geschehen, war das, was getan wurde, der rechte Weg? Zunächst, Sascha Schneider geht wie ich von der Liebe aus, und er strebt wie jeder wahre Künstler nach Vervollkommnung und Veredelung, ihn bewegt, wie kann man werden, der man ist, wie kommt man empor ins Reich der ewigen und wahren Liebe. Und er ringt damit, wie er dieses Ringen, dieses Emporsteigen sichtbar machen kann, denn Malerei ist immer das Sichtbarmachen innerer Vorgänge. Denn Malerei soll nicht nur abbilden, sie soll uns sehen lehren!
Uns allen, liebe Freunde, muss klar werden: Vervollkommnung und Veredelung sind die Hauptthemen des großen Menschheitslebens und damit auch die jedes Einzelnen. Die Menschheit soll empor zur Vervollkommnung und jeder Einzelne ebenso. Nur so wird die Menschheit eine Zukunft haben. Der große Goethe hat einmal gesagt: „Ein guter Mensch in seinem Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst!“ Daran ist nichts auszusetzen, aber er hat uns im Vagen, im Unklaren gelassen. Welcher Weg ist gemeint und wohin führt er uns?
Die Gäste des Wilhelm Kreis hören diese Worte und sie sind erstaunt. Hätte man solches von dem Schriftsteller May erwartet, von einem Mann, der landauf, landab als Abenteuerschriftsteller gelobt und verdammt wird, einem Mann, über den in letzter Zeit geschrieben wurde, er sei ein Scharlatan, ein Verführer, ein Lügner. Nein, man hat es ja sowieso nicht geglaubt. Wer diesen Mann kennt, kann solches Geschwätz nicht glauben.
May redet und je mehr er sagt, desto mehr wandelt sich das Erstaunen der Zuhörer in Ergriffenheit, Nachdenken, Anbetung. Und es ist nicht nur der Inhalt, es ist nicht nur, was er sagt, es ist besonders die Art, wie er spricht, die die Menschen in seinen Bann zieht. May spricht nicht wie ein gewöhnlicher Redner, er predigt, er beschwört, seine Augen leuchten, manchmal schließt er sie, dann scheint er vollständig entrückt. Und auf einmal klingt auch sein Sächsisch nicht mehr störend und abstoßend, nein, es hat plötzlich eine anheimelnde, einschmeichelnde Note. Es klingt weich und warm. Auch scheint der kleine alte Mann zu wachsen, er wird größer und größer, wie von einer inneren Kraft angetrieben und befeuert.
Der Maler
Weitere Kostenlose Bücher