Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
noch sehr gut daran, wie ihr Vater sie weggetragen hatte. Er roch nach Salz; war es das Meer oder Tränen? Die Erinnerung kam und ging, brachte jedes Mal eine neue Welle von Emotionen und ließ ihr Tränen in die Augen steigen, ohne dass sie wusste, warum. Sie ahnte, dass sich hinter dieser Blockade ein Geheimnis verbarg, aber die Szene entglitt ihr jedes Mal aufs Neue. Eines Tages werde ich das Rätsel des Treibholzes lösen, dachte Joséphine.
An der Kappe ihres Kugelschreibers saugend, fragte sie sich gerade, wen sie als Vorbild für Thibaut, den sanftmütigen Troubadour, wählen sollte, als ihr Blick auf den Mann im Dufflecoat fiel, der am anderen Ende des langen Tischs saß. Da war er, nur wenige Meter von ihr entfernt. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, der so gar nicht zur frühlingshaften Stimmung dieses Mainachmittags passte. Sein dunkelblauer Dufflecoat hing über der Rückenlehne seines Stuhls. Er soll mein Troubadour sein! Nein, besann sie sich, dann muss er ja sterben, ich bin erst beim zweiten Ehemann! Sie zögerte. Beobachtete ihn. Er schrieb mit der linken Hand, auf den Ellbogen gestützt, hielt den Kopf gesenkt und ahnte nichts von ihrem Blick, der auf ihm ruhte. Er hat lange, weiße Hände, auf seinen Wangen liegt der bläuliche Schatten eines dichten Bartwuchses, dichte Wimpern verbergen braune, grün gesprenkelte Augen, er ist blass und so dünn. Wie schön er ist! Wie sehr er zur Liebe verlockt! Wie weit er von den Nichtigkeiten dieser Welt entfernt scheint!
Er wird Thibaut sein, und ich lasse ihn nicht sterben: Er verschwindet und kehrt am Ende der Geschichte zurück! Das wird eben eine neue Wendung. Man hält ihn für tot, Florine vergießt alle Tränen, die ihr Körper zu geben hat, und heiratet erneut, doch ihr Herz wird für alle Zeiten Thibaut dem Troubadour gehören.
Nein … Er muss sterben. Sonst ist meine Geschichte nicht mehr glaubhaft. Ich darf mich nicht ablenken lassen. Thibaut ist Troubadour und Burgherr zugleich. Er verfasst nicht nur Liebeslieder, sondern auch Pamphlete gegen die Macht des französischen Königs und Heinrichs II. Er singt von den Freuden der Schlacht und des Schwertkampfs, aber auch von den Nutznießern der Kriege, den Machenschaften an den Fürstenhöfen, der maßlosen Gier der Sieger. Er prangert die Politik der beiden Herrscher an, die zu hohen Steuern, die Verwüstung ganzer Landstriche. Seine Lieder werden in den Städten und Dörfern gesungen; er gewinnt Einfluss, zu viel Einfluss. Das Geld, schreibt er, muss zum Wohl der Untertanen verwendet werden, nicht um den Ruhm der Fürsten zu mehren. Er nimmt die geflüsterten Klagen der Bauern, der Leibeigenen, der Vasallen auf. Er verführt, er reizt. Er entfacht Diskussionen. Man überhäuft ihn mit Gold, um seine aufrührerischen Balladen zu hören. Heinrich II. setzt einen Preis auf seinen Kopf aus. Er wird vergiftet, nachdem er den Gipfel des Ruhms erklommen hat.
Seufzend fand sich Joséphine mit dem Tod von Thibaut dem Troubadour ab.
Inspiriert von der Gegenwart des Mannes im Dufflecoat, arbeitete sie den ganzen Nachmittag, sah, wie er sich immer wieder mit der Hand über die Bartstoppeln strich, wie sich seine Augen bei der Suche nach einem Gedanken schlossen, wie das schmale, ausgemergelte Handgelenk auf dem weißen Blatt lag, wie die Adern auf seiner Stirn anschwollen, sah seine eingefallenen Wangen … und ließ all diese Details in die Beschreibung von Thibaut einfließen. Die Sanftmut dieses Mannes rührt Florines Herz, sie entdeckt die Liebe, vernachlässigt ihren Gott und versenkt sich anschließend in lange Gebete, in denen sie um Vergebung fleht … Florine lernt die Freuden des ehelichen Lagers kennen. Joséphine errötete, als sie mit der Schilderung der Hochzeitsnacht begann und Thibaut sich, nur mit seinem
Hemd bekleidet, zu Florine in das große Bett hinter die geschlossenen Bettvorhänge legt … Sie verschob die Szene auf später, wenn sie ihm nicht mehr in der Bibliothek gegenübersaß.
Die Zeit verging. Fast hätte sie nicht bemerkt, dass der Mann seine Sachen zusammenräumte und sich anschickte zu gehen. Sie schwankte einen Moment zwischen Thibaut und dem Mann im Dufflecoat und … folgte ihm nach draußen, stieß hinter ihm die zweiflügelige Tür auf, die den Lesesaal vor den Geräuschen der Außenwelt schützte. Trat zu ihm hinaus auf die stark befahrene Straße, an die Bushaltestelle, wo er gedankenverloren wartete.
Sie stellte sich neben ihn und ließ ein Buch
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