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Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)

Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)

Titel: Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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bettele sie um Mitleid.
    »Was hat dir denn als Kind gefehlt?«
    Sie dachte einen Moment nach und war ihm dankbar dafür, dass er gefragt hatte. Sie selbst hatte sich diese Frage noch nie gestellt, doch seit sie schrieb, stiegen immer mehr Bruchstücke aus ihrer Kindheit auf und ließen ihr die Tränen in die Augen treten. Wie jene Szene in den Armen ihres Vaters, der ihre Mutter anschrie: »Eine Kriminelle bist du!« Ein Spätnachmittag, tief hängende, dunkle Wolken am Himmel, das Tosen der Wellen. Diese übertriebene Empfindsamkeit wird allmählich albern, ich muss mich unbedingt zusammenreißen. Sie versuchte, möglichst nüchtern zu antworten.
    »Mir hat nichts gefehlt. Ich habe eine gute Erziehung genossen, ich hatte ein Dach über dem Kopf, einen Vater und eine Mutter, ein stabiles Umfeld. Ich habe sogar immer wieder gemerkt, wie sehr mein Vater mich liebte. Aber mir fehlte … Es war, als existierte ich gar nicht. Niemand beachtete mich. Niemand hörte mir zu, niemand sagte mir, dass ich hübsch, klug und witzig sei. Das gab es damals nicht.«
    »Aber sie sagten es zu Iris …«
    »Iris war ja auch viel hübscher als ich. Ich bin sehr schnell in den Hintergrund getreten. Maman stellte sie mir immer als Vorbild hin. Ich habe immer gespürt, dass sie stolz auf sie war, aber nicht auf mich …«
    »Und so ist es noch immer, nicht wahr?«
    Sie errötete, biss in ihr Croissant und wartete, bis es in ihrem Mund zerschmolzen war.
    »Wir sind unterschiedliche Wege gegangen. Aber es stimmt, sie ist…«
    »Aber heute, Jo?«, fiel ihr Philippe ins Wort. »Wie ist es heute …?«
    »Meine Töchter geben meinem Leben einen Sinn, ein Ziel, aber sie geben mir nicht das Gefühl, eine eigenständige Person zu sein. Erst wenn ich schreibe, bekomme ich eine Ahnung davon, was das sein könnte. Aber nur, während ich schreibe, denn wenn ich später noch einmal lese, was ich geschrieben habe … nein! Dann würde ich am liebsten alles gleich wieder wegwerfen!«
    »Wenn du an deiner Habilitation schreibst?«
    »Ja …«, stammelte sie, und ihr wurde bewusst, dass sie sich schon wieder verplappert hatte. »Weißt du, ich gehöre zu den Menschen, die sich nur langsam weiterentwickeln. Ich frage mich, ob ich nicht zu spät aufwachen werde, ob ich nicht meine Chance verpasse, und gleichzeitig weiß ich gar nicht, worin diese Chance bestehen soll, die ich mit aller Kraft herbeisehne …«
    Philippe verspürte den Drang, sie zu beruhigen, ihr zu sagen, dass sie sich die Dinge zu sehr zu Herzen nehme, sich grundlos Vorwürfe mache. Ihre starre Haltung, ihr starrer Blick strahlten Ernsthaftigkeit aus, und er fragte: »Du glaubst also, du hättest deine Chance verpasst? Du glaubst, dein Leben wäre vorbei …?«
    Sie sah ihn nachdenklich an, dann lächelte sie, wie um sich dafür zu entschuldigen, so ernst geworden zu sein.
    »In gewisser Weise schon … Aber, weißt du, das ist im Grunde auch nicht schlimm. Es wird kein schmerzhafter Verzicht sein, nur ein kaum merklicher Übergang ins Nichts. Der Lebenshunger schwindet mit der Zeit, und eines Tages bemerkt man, dass er kaum noch vorhanden ist. Du kennst das nicht. Du hast dein Leben immer selbst in die Hand genommen. Du hast dir von niemandem vorschreiben lassen, wo es langgeht.«
    »Niemand ist wirklich frei, Joséphine. Ich genauso wenig wie alle anderen! Und vielleicht bist du ja in gewisser Weise sogar freier als ich … Du weißt es nur nicht. Eines Tages wirst du dir deiner Freiheit bewusst, und an diesem Tag wirst du Mitleid mit mir haben …«
    »So wie du gerade mit mir …«
    Er lächelte und wollte ihr nichts vormachen.
    »Du hast recht … Ich hatte Mitleid mit dir, manchmal habe ich mich sogar über dich geärgert! Aber du hast dich verändert. Und du veränderst dich immer weiter. Du wirst es selbst erkennen, wenn deine Verwandlung abgeschlossen ist. Man merkt selbst immer als Letzter, welchen Weg man zurückgelegt hat. Aber ich bin mir sicher, dass du eines Tages genau das Leben führen wirst, das dir gefällt, und dieses Leben wirst du dir ganz allein erkämpft haben!«
    »Glaubst du das wirklich?«
    Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht.
    »Du bist selbst dein ärgster Feind, Jo.«
    Philippe nahm die Zeitung und seine Kaffeetasse.
    »Stört es dich, wenn ich zum Lesen auf die Terrasse gehe?«, fragte er.
    »Überhaupt nicht. Dann kann ich in Ruhe weiterträumen. Ohne Sherlock Holmes an meiner Seite!«
    Er schlug die Herald Tribune auf und dachte

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